Autor*innen-Porträts

Dieter Wellershoff

3. November 1925 – 15. Juni 2018

Dieter Wellershoff
© dpa picture-alliance / Rolf Vennenbernd

Autor und Ort

Dieter Wellershoff wurde 1925 in Neuss geboren und wuchs in Grevenbroich auf. Er studierte in Bonn und arbeitete später beim Verlag Kiepenheuer & Witsch in Köln. Die Rheinmetropole wurde zu seiner Wahlheimat, hier wohnte er zunächst mit seiner Ehefrau in Sülz, ab 1978 dann in einer Eigentumswohnung in der Mainzer Straße in der Südstadt. Dort entstand der größte Teil seines literarischen Werkes. Viele Schauplätze, die er in seinem Roman Der Liebeswunsch beschrieb, liegen im Römerpark und dessen Umgebung. Wellershoff starb 2018 in Köln und wurde auf dem Melatenfriedhof beigesetzt. Die Stadt Köln richtete noch im selben Jahr zusammen mit dem Literaturhaus Köln zwei nach ihm benannte Stipendien ein, bei denen pro Jahr jeweils 12.000 Euro zur Förderung von Kölner Autor*innen vergeben werden. Seine Geburtsstadt Neuss verlieh Wellershoff 2002 das Große Stadtsiegel in Silber, die höchste Auszeichnung. 2010 war er der erste Autor der Reihe „Neuss liest ein Buch“.

Leben und Werk

Dieter Wellershoff wurde 1925 in Neuss geboren. Als der Vater eine Anstellung als Kreisbaumeister fand, zog die Familie 1930 nach Grevenbroich, wo Dieter Wellershoff fortan die Schule besuchte. Bereits als Kind tauchte Wellershoff gerne durch Bücher in fremde Welten ein und schlüpfte im Spiel mit anderen Kindern in verschiedene Rollen. Hier habe sich „seine Persönlichkeit entfaltet“, sagte er viele Jahre später, inzwischen ein bekannter Autor, bei einem Besuch in Grevenbroich.

Während des Zweiten Weltkriegs meldete sich Wellershoff im Alter von 17 Jahren freiwillig für die Panzerdivision „Hermann Göring“ und wurde an die Front nach Ostpreußen delegiert. Dort wurde er von einem Granatsplitter am Knie verletzt, was seinen Gang dauerhaft beeinträchtigte. Die Erkenntnis, wie knapp er dem Tod entkommen war, prägte ihn und sein späteres literarisches Werk. Die Begrenztheit und Einmaligkeit des irdischen Lebens wurden zu zentralen Motiven seines Schaffens.

Zurück im Rheinland, holte Wellershoff sein Abitur nach und studierte ab 1947 in Bonn Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie und machte sich zunächst als Literaturwissenschaftler einen Namen. 1952 promovierte er mit einer Arbeit über Gottfried Benn. Im selben Jahr heiratete er seine Studienkollegin Maria von Thadden, mit der er Benns gesammelte Werke herausgab. Von 1952 bis 1955 arbeitete Wellershoff für die Deutsche Studentenzeitung und schrieb ein Theaterstück, mehrere Radio-Features und Hörspiele.

Ende der 1950er Jahre wurde der Kölner Verleger Joseph Witsch auf Wellershoff aufmerksam und bat ihn, für seinen Verlag ein wissenschaftliches Programm zu entwickeln. Wellershoff träumte zwar zu dieser Zeit davon, selbst als Autor bekannt zu werden, nahm die Stellung jedoch an – vor allem aus finanziellen Gründen. In Zusammenarbeit mit Jürgen Habermas und weiteren bedeutenden Forschern baute er bei Kiepenheuer & Witsch die „Neue Wissenschaftliche Bibliothek“ auf, in der über die Jahre über 100 grundlegende Werke der Soziologie, Psychologie, Geschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft erschienen.

Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit wurde Wellershoff Lektor von Heinrich Böll und schaffte es, den Verlag in kürzester Zeit zu einer der ersten Adressen für neue deutsche Literatur zu machen. Er lotste junge Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann, Nicolas Born und Günter Wallraff zu Kiepenheuer & Witsch, für die er das Label „Neuer Realismus“ erfand.

Im Laufe der 1960er Jahre reduzierte Wellershoff seine Verlagsarbeit und widmete sich selbst dem Schreiben. In den folgenden 50 Jahren wurde er zu einem der produktivsten und schließlich auch bekanntesten Autoren Deutschlands. Neben seiner bevorzugten literarischen Form, dem Roman, schrieb Wellershoff auch Drehbücher, Hörspiele, Essays, Bühnenstücke und Gedichte. Sein 2000 erschienener Roman Der Liebeswunsch, in dem er über das Beziehungsgeflecht zweier bürgerlicher Paare schrieb, wurde zum Bestseller und einige Jahre später verfilmt. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Heinrich-Böll-Preis (1988) und den Niederrheinischen Literaturpreis (2002).

Dieter Wellershoff starb am 15. Juni 2018 im Alter von 92 Jahren in Köln.

Von Leonie Bauerdick

Der Liebeswunsch (Romanauszug)

Es ist das letzte Wochenende vor dem Ende der Schulferien. Der Rückreiseverkehr hat eingesetzt. Noch gibt es freie Parkplätze in den Straßen der Wohnviertel. Die Busparkplätze an der Rheinuferstraße sind wieder mit Reisebussen aus dem In- und Ausland besetzt. Ausflügler aus dem näheren Umland und weitgereiste Reisegruppen stauen sich an den Anlegestellen der Ausflugsboote. Unter den Sonnenschirmen der Altstadtrestaurants werden die hin und her eilenden Bedienungen von Wartenden behindert, die zwischen den Tischen nach frei werdenden Plätzen Ausschau halten. Träge Menschenströme, gebremst durch ihre Dichte und Masse, schieben sich durch die Geschäftsstraßen der Innenstadt, beidseitig flankiert von Schaufensterpuppen in dramatischen Posen, die zu Schleuderpreisen die auslaufenden Sommermoden präsentieren. Gleich hinter dem Eingang steht der Kaufhausdetektiv, erkennbar an seinem seriösen Anzug und seinem schläfrigen Ernst. Ein Ladendieb schlüpft gerade an ihm vorbei. Ein Sektenprediger, dem niemand zuhört, ruft zu Umkehr und Einkehr auf, während nicht weit von ihm entfernt ein kalkweiß geschminkter Pantomime in einem silbernen Gewand langsame fließende Bewegungen vollführt, als schwebe er in einem schwerelosen Raum.

Alles scheint ständig zu stocken, alles geht weiter. „Gottes Zorn ist nah!“, ruft der Prediger. „Aber seine Gnade ist unendlich!“ Ein vorbeikommender junger Mann sagt zu seiner Begleiterin: „Such dir was aus.“ Immer mehr Menschen! Was wollen sie? Menschen suchen das Menschengedränge, das Gewühl des Lebens. Es ist Mittagszeit. In den Parks und am Ring, wo vor allem Jugendliche flanieren, sind die zinkgrauen Abfallbehälter mit Plastikbechern, Cola-Falschen, platt gedrückten Getränkedosen, mit Ketchup beschmierten Papptellern und Pommes frites überfüllt. Bei einigen Behältern ist die Bodenklappe mit Gewalt geöffnet worden, und der ganze Fast-food-Müll liegt auf dem Boden herum. Hochbetrieb in den Freibädern und an den Stränden der Badeseen. Am Fühlinger See findet eine Ruderregatta statt, am Otto-Maigler-See ein Beachball-Wettbewerb. Überall liegen im Schatten der Bäume eng umschlungene Liebespaare. Über der Szene schwebt ein silbergraues Luftschiff mit der Aufschrift „Fuji Film“.

(aus: Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000, S. 302ff.)