Leben und Werk
Günter Seuren hatte sich schon früh auf eine Existenz als Schriftsteller eingeschworen. Nach dem Abitur 1953 ging er ohne weiteres Studium sofort in die Praxis und arbeitete in der Redaktion der „Neue Post“. Schon ab 1955 firmierte er als freier Schriftsteller und Journalist und schrieb Filmkritiken für die „Deutsche Zeitung“. Sein Debüt-Lyrikband Winterklavier für Hunde trug ihm erste Aufmerksamkeit ein: 1963 erhielt er den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für Literatur, ein Jahr später zählte er zu den nur sechs Autoren, deren Texte Dieter Wellershoff in einer Art Einladungswettbewerb mit dreißig Teilnehmenden für seine Anthologie Ein Tag in der Stadt auswählte. Mit dabei waren unter anderen Günter Herburger, Ludwig Harig und Rolf Dieter Brinkmann.
Zusammen mit anderen Autorinnen und Autoren wie Nicolas Born, Tankred Dorst und Renate Rasp firmierten sie – bei aller Unterschiedlichkeit – unter dem Label „Kölner Schule des Neuen Realismus“. Auch wenn sich ein Zusammenhang im wesentlichen aus der Zuschreibung durch die Theorie-Essays von Wellershoff ergab, sorgte der werbewirksame Begriff bei allen Beteiligten für einen weiteren Aufmerksamkeitsschub, so auch bei Günter Seuren, der 1964 seinen Debütroman Das Gatter veröffentlichte.
Darin geht es um einen 28-jährigen Großstadt-Journalisten, der kurz vor seiner Hochzeit mit einer von ihm nur bedingt geliebten Frau zu einer Jagd in sein heimatliches „Kaff“ zurückkehrt, um Klarheit über seine Zukunft zu gewinnen. Aber obwohl er die unter dem Diktat und den Normen der (Nazi-)Väter funktionierende Gesellschaft verachtet, kehrt er resigniert zurück und fügt sich müde ins System ein. Der Roman traf die gelähmte Stimmung kurz vor der Revolte 1967/1968 so passgenau, dass sich nur ein Jahr später Peter Schamoni zusammen mit Seuren als Drehbuchautor an eine Verfilmung des Romans machte. Schonzeit für Füchse, so der Filmtitel, erhielt drei Deutsche Filmpreise sowie den „Silbernen Bären“ und den Drehbuchpreis der Berliner Filmfestspiele 1966.
Auch weitere von Seurens Büchern wurden – dann fürs Fernsehen – verfilmt: die Romane Lebeck (1966) und Das Kannibalenfest (1968) sowie die Erzählung Der Angriff (1982). In seiner Erzählung Abschied von einem Mörder (1980) setzte sich der Autor kritisch mit der SS-Karriere seines Vaters auseinander, der 1945 im Krieg gestorben war.
Nicht vergessen werden dürfen Seurens Hörspiele seit seinem Erstling König Lasar (1967 im WDR), darunter die bis heute ausgestrahlte Rede an die Nation (1969), in der sich der legendäre Helmut Qualtinger in eine irrwitzige Vernichtungsekstase und Allmachtsfantasie hineinsteigert.
Seurens hoch-ironischer Blick auf die Münchner Film- und Kulturschickeria im Roman Die Asche der Davidoff (1985) hielt ihn 1987 nicht davon ab, seinen Wohnsitz nach München zu verlegen und sich für mehrere Jahre zugunsten des Filmbusiness aus der Belletristik zu verabschieden. Ab 1986 schrieb er für die WDR-Reihe „Schatzsucher“ und das ZDF zahlreiche Drehbücher für Dokumentarfilme, deren Dreharbeiten ihn u.a. nach Kanada, Mexiko, Ecuador und Peru führten. Daraus entstanden zudem drei Bildbände mit abenteuerlichen Reise- und Expeditionsberichten.
Quasi im Pensionsalter gab Seuren ein Comeback als Romanautor. Nach der Jahrtausendwende 2000 erschienen vier Romane, der letzte davon posthum wenige Monate nach seinem plötzlichen Tod 2003. Die Stoffe, denen er sich zuwendete, sind außerordentlich vielfältig, sein Blick ist meist von einer ironischen Haltung geprägt. Angefangen bei der Ökosatire Der Krötenküsser (2000) über Die Galapagos Affäre (2001), die von einem realen deutschen Kommune-Experiment im Jahr 1929 handelt, bis zu einer satirischen Geschichte um die Tennisspielerin Steffi Graf in Jenseits von Wimbledon (2002). Posthum erschien 2004 Das Floß der Medusa, ein Buch über Tod, Kunst und späte Liebe, aber auch noch einmal über den Nationalsozialismus.
Von der Literaturkritik wurde durchweg die „sarkastische Eleganz“ (Die Zeit) und der „leichte, geschmeidige Tonfall“ (SZ) von Seurens Schreibstil hervorgehoben. Der Literaturkritiker Thomas Kraft fand „raffinierte Miniaturen, meisterhaft zugespitzte Dialoge, eine artifizielle, unterkühlt-lakonische Sprache.“
Am 10. Dezember 2003 verstarb Günter Seuren 72-jährig in München an einem Herzinfarkt.
Von Thomas Hoeps
Das Gatter (Romanauszug)
Ich wäre gern ein Stück am Rhein entlanggegangen, bevor es dunkel wurde. Langsam über die Promenade, um in die erleuchteten Fenster der Leute zu sehen, die um einen Tisch sitzen oder unter einem ballonartigen Lampenschirm lesen. Und durch die Scheiben, die keine Gespräche durchlassen, sehen sie so hell aus, jedenfalls ungestört, weil sie mit einer Sache beschäftigt sind, etwas quer durch den Raum tragen und hinstellen, einen Teller, eine Schere oder etwas Unkenntliches, und in den Fenstern stehen Gewächse.
Aber Clara verzieht das Gesicht, wenn sie mehr als hundert Meter auf ihren Pfennigabsätzen laufen soll. Auch die Nacht, glaube ich, ist ihr unbequem, zu schwer, zu langatmig. Clara lebt erst auf, wenn sie einer verrückt gewordenen Sternschnuppe, die scheinbar über Düsseldorf zerplatzt, ihre geheimsten Wünsche andrehen kann. Ich habe keine Lust mir irgendein Gegenteil zu wünschen, wenn ich merke, daß Clara sich schrecklich beeilt ihren Wunsch verständlich zu formulieren, ich sehe nur einen wie mit einem Glasschneider plötzlich ausgeführten Schnitt, bei dem ich jedenfalls an nichts Vertrautes denken kann.
(aus: Günter Seuren: Das Gatter. Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1964, S. 63.)