Autor*innen-Porträts

Rolfrafael Schröer

4. Dezember 1928 – 27. Januar 2022

Rolfrafael Schröer
© Brigitte Friedrich / Süddeutsche Zeitung Photo

Autor und Ort

Der in Dresden geborene Rolfrafael Schröer kam erstmals in den 1950ern Jahren in den Westen, zunächst nach Krefeld, wo er Goldschmied und Graveur wurde. In dieser Zeit lernte er V.O. Stomps, den Verleger der Eremitenpresse, kennen, der nicht nur seine ersten literarischen Versuche veröffentlichte, sondern ihm auch dazu riet, seinen Namen aufzupeppen – und so wurde aus Rolf Rolfrafael. 1972 gründete Rolfrafael Schröer zusammen mit Klaus Ulrich Düsselberg die „Sassafras-Blätter“, um die in der Kneipe gelesenen Texte zu sammeln. 1974 entstand daraus der Sassafras-Verlag. In den 90er Jahren zog Schröer schließlich nach Düsseldorf, wo er über die Jahre in verschiedenen Wohnungen am Fürstenwall lebte. Dort leitete er zeitweise auch eine Gravuranstalt. Neben dieser Arbeit war er aktiv in Studiotheatern, im Kabarett, als Pantomime und als Vortragender auf Lesebühnen. 1980 gründete er in in der Landeshauptstadt das erste Literaturbüro im deutschsprachigen Raum, das er zusammen mit Lore Schaumann bis 1989 leitete. 2004 erhielt er die Trude-Droste-Gabe der Stadt Düsseldorf. 2008 widmete ihm das Literaturbüro einen Ehrenwort-Band mit dem Titel zur miete im wort.

Leben und Werk

Wenn er Menschen mochte, hat er sie bei Begegnungen gerne hochgehoben. Das tat er so lange, bis es ihm der Arzt verbot; da war Rolfrafael Schröer bereits über 80. Und nicht nur die Schreibenden, Lesenden und Vermittelnden – er hat die ganze Literatur hochgehoben.

Anfang der 1980er Jahre hatte Schröer die bis dahin von niemandem gedachte Idee, eine Einrichtung zu schaffen, die auf unterschiedlichste Weisen Sprachkunst an den Mann und an die Frau bringen sollte – ob mithilfe eines Literaturtelefons oder auf einem Poetenwanderweg. Diese Einrichtung war das Literaturbüro NRW, das er gründete und bis 1989 leitete, gemeinsam mit Lore Schaumann, die zahllose hoffnungsvolle Nachwuchsautor*innen bei ihren Manuskripten beriet. Dieses erste Literaturbüro überhaupt diente schnell als Vorbild, allein an Rhein und Ruhr entstanden bald vier weitere; bis heute sind sie für die Vermittlung von Literatur unverzichtbar.

Der schnelle und nachhaltige Erfolg des Literaturbüros NRW hatte sehr stark mit der Person seines Erfinders und Leiters zu tun. Am 4. Dezember 1928 in Dresden geboren, verbrachte Rolfrafael Schröer seine Kindheit in Meißen. Als 16-jähriger musste er in den letzten Kriegstagen noch Soldat werden; er sah, wie seine Geburtsstadt zerstört wurde. Mit 17 wurde er von den Sowjets ins Zuchthaus Bautzen gesperrt. Nach seiner Freilassung war er, der als Kind davon geträumt hatte, Tänzer zu werden, auf einem anderen Gebiet künstlerisch aktiv: Er entwarf Schmuck und wurde Graveur. Nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik arbeitete der vielfach Begabte und Interessierte unter anderem als Erzieher in Bethel.

Aber schon in den 1960er Jahren erschienen auch erste literarische Texte von ihm. Rolfrafael Schröer war niemand, der gerne im stillen Kämmerlein blieb – er liebte Gesellschaft und Auftritte, ob als Pantomime, Schauspieler oder Vortragender auf Lesebühnen. Neben Lyrik publizierte er Prosa, Dramen und Hörspiele, insgesamt rund 20 Bücher, darunter Schaufelschnulzen für Reibeisenstimme und Zeitalter der Ameise.

Literatur war für ihn eine Reaktion auf die Vielfalt des Lebens, sie bot kein kategorisches Ja oder Nein, sondern bestand aus Farben, Klängen, skurrilen Abwegen, aus Menschen in ihrer ganzen Leiblichkeit, Traurigkeit, Gemeinheit, Prächtigkeit und Heiterkeit. Darauf stieß er gerne an, mit Künstlerkolleg*innen, mit dem Publikum und bevorzugt mit Grappa (weshalb er mitunter auch „Rolfgrappael“ genannt wurde).

Seine vielfältigen, hochfliegenden Ideen hat er erstaunlich oft in die Tat umgesetzt – ob als Leiter des Literaturbüros oder ab 1989 als Gründer und Leiter des Künstlerdorfs Schöppingen im Münsterland. Nach 1997, in einem Alter, in dem andere ruhiger werden, war er mit seiner Frau Sigrun Rost als Rezitator im Dienste der Literatur unterwegs, er wies temperamentvoll und eindringlich das Publikum auf andere Autor*innen hin, bekannte wie unbekannte.

Für sein literarisches und literaturvermittelndes Wirken wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Bundesverdienstkreuz am Bande. Rolfrafael Schröer starb am 27. Januar 2023 im Alter von 93 Jahren in Münster.

Von Michael Serrer

Der Gedächtnisbaum

Stamm Äste Zweige Blätter
Auch Früchte?
Gedächtnisfrüchte?
Wo Tucholsky    wo
Kommen die Löcher im Käse her?
Nein Tucholsky wo
Kommen die Löcher her in
Der Erinnerung?
That‘s the question
                Die Nase vergißt nie
                Die Innenaugen die
                Die Traumaugen erinnern
                Unentwegt allerwegen allerorten
Wie sich ein Brot anfaßt
Noch warm bemehlt
Wie sich die Leere anfaßt
Wie sich die Leere anhört
Der Schrei der nicht schreit
Die Finger verbrannt an
Das schon gedachte Denken
Der zuende geschmerzte Schmerz
Die zerlachten Gelächter
Das tränenohne Weinen
Das kaputtgesehne Sehen
Das Restsehen hinters Licht geführt
Den Restleib verraten
Mit Schellen behängt
Klingling klingling
Der Gedächtnisbaum gefällt
Äste Zweige Rinde verbrannt
Bretter gesägt für die Kiste
Ichnarr an der Grabkante
Hoppla
Blödes Prinzip Hoffnung

(aus: Rolfrafael Schröer: zur miete im wort. Ehrenworte, Bd. 5., Edition Virgines, Düsseldorf 2008, S. 46f.)