Autor*innen-Porträts

Marie T. Martin

16. April 1982 – 2. November 2021

Marie T. Martin
© Ilker Gürer

Autorin und Ort

Marie T. Martin ging nach ihrem Studium am Literaturinstitut in Leipzig nach Köln, wo sie zwölf Jahre lang als Hörspiel-Autorin und Theaterpädagogin lebte, die meiste Zeit davon im Stadtteil Ehrenfeld. Gern besuchte sie die Bars und Cafés dort, der Tapas-Bar „Meer Sehen“ hat sie mit einem gleichnamigen Beitrag im Kölner Kneipenbuch (erschienen 2011 bei DuMont) auch ein literarisches Denkmal gesetzt. Darin trifft die Erzählerin einen neuen Nachbarn: „Ich habe Hunger und Durst, rief er, kennen Sie hier etwas Nettes? Es gibt viele nette Orte, rief ich, und sie haben schöne Namen: Sehnsucht, rief ich, Goldmund, Rubinrot, Königsblut, Gegenüber, die Zeit der Kirschen, Meer Sehen.“ Martin war Mitglied des Literatur-Ateliers Köln und erhielt 2008 das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln. Kurz übernahm sie auch die Leitung des literarischen Programms des Ulla-Hahn-Hauses in Monheim. Nach ihrer Kölner Zeit kehrte sie in ihre Heimatstadt Freiburg zurück.

Leben und Werk

Marie T. Martin wurde am 16. April 1982 in Freiburg im Breisgau geboren und wuchs im Dreisamtal auf. Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und lebte anschließend zwölf Jahre lang in Köln, bevor sie zurück in ihre Heimatstadt zog. Ihr literarisches Schaffen wurde früh unterstützt und ausgezeichnet. So erhielt sie 2007 den Förderpreis des MDR-Literaturwettbewerbs und 2008 das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium. 

Mit dem Erzählband Luftpost legte Marie T. Martin 2011 ihr Prosadebüt vor. Melancholisch im Grundton, erzählt sie darin von Figuren, die sich in einem Schwebezustand befinden, noch auf der Suche sind nach ihrem Platz in der Welt, nach ihrem eigenen Wesenskern. Der Band wurde mit dem Grimmelshausen-Förderpreis geehrt. 2012 folgte mit Wisperzimmer Martins Lyrikbüt. Ein staunender Blick, eine große Offenheit zeichnen ihr lyrisches Werk aus; ihre Gedichte setzen auf die Verwandlungskunst der Fantasie, lauschen auf das Flüstern der Erinnerung, suchen stets eine andere Art der Wahrnehmung. „Im Bewusstsein der Vergänglichkeit, auch der Vergänglichkeit des Schönen, gelingen ihr fragile poetische Gebilde: verletzlich, tröstlich und heilsam“, schrieb ihr Autorenkollege Tom Schulz. 

2013 erhielt sie den Förderpreis für junge Künstlerinnen und Künstler des Landes NRW. „Marie T. Martin lässt in ihren Texten Bilder von großer Helligkeit und Prägnanz leuchten, Bilder, die geradezu strahlen. Sie scheut weder die tiefgreifenden Themen noch das Alltägliche, das Skurrile findet sich ebenso wie das Pathos. Marie T. Martin gelingt es spielend, die Gegenwart um etliche Wahrnehmungsspuren zu erweitern“, so die Jury. Beispielhaft für besagte Erweiterung steht der 2015 erschienene Band Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen? mit Prosaminiaturen, die oftmals skurrile, surreale Szenarien entwerfen. „Texte voll überraschender Wahrnehmungen: witzig, böse und wunderbar“, urteilte WDR 5. 2018 erhielt sie den Förderpreis zum Mörike-Preis der Stadt Fellbach. „Marie T. Martin holt die Worte aus den gewohnten Zusammenhängen und gibt ihnen ein Eigenleben zurück“, so Hauptpreisträgerin Elke Erb, die Marie T. Martin den Preis zuerkannte. 

Als Autorin zeigte Marie T. Martin eine Offenheit für alle Textformen ebenso wie für interdisziplinäre Projekte. Sie arbeitete mit Künstler*innen aus verschiedenen Bereichen zusammen, verfasste Hörspiele für den Rundfunk, ein Libretto für ein Musiktheater im öffentlichen Raum, Theatertexte sowie verschiedene Beiträge für Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien. Aufenthaltsstipendien führten sie unter anderem nach Istanbul, an das Literarische Colloquium Berlin, nach Edenkoben und Hausach. 2019/20 war sie Stipendiatin der Stiftung Lydia Eymann im schweizerischen Langenthal. 

Mit dem Gedichtband Rückruf erschien im Herbst 2020 ihr letztes Werk zu Lebzeiten. Das Motiv der Vergänglichkeit aufnehmend, auch das Suchende, Fragende ihres Gesamtwerks, durchdringen die Gedichte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wenden sich der Natur ebenso zu wie den Lebenden und den Toten, machen die romantische Vorstellung spürbar, dass alles miteinander verbunden ist. „Mit Rückruf‘ legt Marie T. Martin einen wegweisenden, womöglich epochalen Gedichtband vor, fein komponiert, anrührend und erstaunlich in jeder Zeile“, befand die Frankfurter Allgemeine Zeitung. 

Marie T. Martin starb am 2. November 2021 in Freiburg. Unter dem Titel Der Winter dauerte 24 Jahre erscheint im Herbst 2024 ein Sammelband, der alle vier von Marie T. Martin im Poetenladen Verlag veröffentlichten Werke sowie Prosaminiaturen aus dem Nachlass enthält. 

Von Hanna Lemke

Brief im April

Bekommst du noch Briefe von Toten? Ich schreibe dir 
ins Jahr nach deinem Tod, was siehst du ohne Augen?
Hier wachsen Blauschote und Glimmerkraut, später 
wird sich enthüllen, welche Sätze wichtig gewesen 
wären. Schreibst du noch Briefe, ich schreibe mir 
selbst ins Jahr meiner Geburt, ein  Rollbild auf 
einem Parkplatz die Kalligrafie von Reifen. Wurdest du 
älter, sieht dich die fahrende U-Bahn, hält dich der Ahorn 
dazwischen? Versprich mir wach zu bleiben, versprich
mir eine Rede an die Seele, in einem Gebinde aus
Weißdorn und Wacholder. Versprich mir aufzuwachen,
versprich mir, dich nie zu verlassen.

(aus: Marie T. Martin: Rückruf. Poetenladen-Verlag, Leipzig 2020.)