In Deutschland kommen jedes Jahr mehr als zehntausend Neuerscheinungen auf den Markt. Wer kann da noch den Überblick behalten? Wir! Einmal im Monat schicken wir Literaturkenner*innen und Vielleser*innen aus unserem Netzwerk ein Überraschungsbuch zu, das sie noch nicht kennen – aber unbedingt kennen sollten. Ihre Leseeindrücke verarbeiten sie anhand des folgendenen Fragebogens.
Im April liest Michael Predeick, Organisatorin und Dramaturgin des Poetica-Festivals in Köln, Hohle Räume von Nora Schramm.
Wie schön, auf das Buch war ich ohnehin schon ganz neugierig! Nicht zuletzt, weil Nora Schramm in Köln den Studiengang Theorien und Praktiken professionellen Schreibens studiert hat, in dem ich auch seit einigen Jahren lehre. Unsere Wege hatten sich dort aber nicht gekreuzt.
Helene, eine erfolgreiche junge Künstlerin, tritt anlässlich der bevorstehenden Scheidung ihrer Eltern einen Heimatbesuch in einer fiktiven schwäbischen Kleinstadt an. Das elterliche Haus, bisher Ausdruck der wohlkomponierten familiären Ordnung, wirkt durch die Trennung verändert und scheint Helene alle Energie zu entziehen. Sie registriert die darin nun vereinzelt auftretenden Eltern: Wie der Arzt-Vater, der eigentlich schon immer nur als Leerstelle existiert, jetzt noch weniger greifbar für Mutter und Tochter ist. Wie die Mutter sich in leerlaufender Geschäftigkeit ergibt, das Haus immer weiter aus- und durchräumt, bis sie die Treppe herunterstürzt und sich die Hüfte bricht. Widerwillig sieht Helene sich immer unausweichlicher mit dem gesamten Inventar ihrer Herkunft konfrontiert – inklusive der verschwunden geglaubten Pflegeschwester Molly.
Es geht um die Anstrengungen und Opfer, die besonders für Frauen damit einhergehen, ein bürgerliches Ideal von Familie zu verwirklichen. Es geht um die Hohlräume, die Leere, die diese permanente Arbeit in den Menschen hinterlässt. Der Körper der Mutter ist schließlich ganz buchstäblich davon betroffen.
Mich hat beim Lesen von Hohle Räume ganz viel überrascht: Die lakonische Poesie der Sprache, die Nora Schramm dem Schwäbischem abgelauscht hat; jedem Namen wird ein Artikel zur Seite gestellt, als könnten der Tommy, die Birgit, der Opa Richie allein nicht stehen. Die verschiedenen Arten, Weinen und den Himmel zu beschrieben. Der präzise ins Tragikomische gerückte Blick auf die anstrengende und angestrengte Mutter, der sie aber dennoch nie bloßstellt. Und überhaupt, dass die Konstellation ‚Künstlerinnen-Tochter kehrt in die provinzielle Heimat zurück‘ kein bisschen vorhersehbar ausgespielt wird.
„Der Friedhof beruhigt mich, was seltsam ist, aber schon das Wort ist beruhigend. Ich liebe Höfe, die die Bäuche von Häusern sind, und ich liebe Bäuche, wegen ihrer zur Schau gestellten Verletzlichkeit.“
Ich finde Hohle Räume schon sehr treffend. Die Vorstellung von hohlen Räumen erzeugt etwas diffus Unheimliches, vielleicht sogar Bedrohliches, dessen Dimension man von außen nur erahnen kann. Gleichzeitig schwingt etwas Banales mit. Beides findet man auch im Roman miteinander verschaltet.
Die Auflösung des Hauses Decker von Angelika Meier.
... bisher wohl selten so präzise, humorvoll und poetisch die bürgerliche deutsche Familie literarisch zerlegt wurde.
Das Buch:
Nora Schramm – Hohle Räume
Matthes & Seitz
Berlin 2024
237 Seiten