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Buchempfehlung

Stress in Essen

Anabelle Assaf

Die Rückkehr ins Ruhrgebiet weckt alte Traumata, liest Anabelle Assaf in Lisa Roys „Keine gute Geschichte“.

In Deutschland kommen jedes Jahr mehr als zehntausend Neuerscheinungen auf den Markt. Wer kann da noch den Überblick behalten? Wir! Einmal im Monat schicken wir Literaturkenner*innen und Vielleser*innen aus unserem Netzwerk ein Buch zu, das sie noch nicht kennen – aber unbedingt kennen sollten. Ihre Leseeindrücke verarbeiten sie anhand des folgendenen Fragebogens.

Im Februar liest Anabelle Assaf, Literaturagentin, Übersetzerin und Moderatorin aus Köln, Keine gute Geschichte von Lisa Roy.

Was hast du gedacht, als du das Buch ausgepackt hast?

Das wollte ich längst schon lesen!

Worum geht’s?

Es geht um Arielle Freytag, die versucht hat, ihre Kindheit, ihr Kindheitstrauma, den Ort, an dem sie aufgewachsen ist, und vor allem ihre gefühlskalte Großmutter, die all das repräsentiert, hinter sich zu lassen. Jetzt kehrt sie nach zehn Jahren zurück, weil es der Großmutter schlecht geht, und muss sich dieser traumatischen Vergangenheit stellen, nachdem sich Dinge vermeintlich wiederholen. Arielles Mutter ist verschwunden, als sie sechs Jahre alt war, und nun sind in dem Essener Viertel zwei Mädchen verschwunden – Zufall oder Muster?

Worum geht’s wirklich?

Ich glaube, es geht um die Verletzlichkeit von Kindern, aber auch um deren Resilienz, um die Verantwortung von Erwachsenen und dass Netzwerke, Unterstützung und Halt nichts mit familiären Strukturen zu tun haben müssen. Es geht um Depression und Einsamkeit und mit Sicherheit auch um Schein und Sein, dass wir Menschen sehen und bewerten und entsprechend behandeln – ob positiv oder negativ, ob sie es verdient haben oder nicht.

Was hat dich überrascht?

Der Roman hat Spannungselemente, mit denen ich so nicht gerechnet habe. Ich dachte, es geht viel mehr noch um Milieus und soziale Ungleichheiten, stattdessen hatte ich zum Schluss das Gefühl, mit Arielle einen Kriminalfall zu lösen.

Welches Zitat würdest du dir an den Kühlschrank pinnen?

„Das ist wie in einem langen Winter. Wenn man irgendwann schon ganz vergessen hat, wie sich Frühling anfühlt. Und du denkst, dass du immer schon die Schultern hochgezogen und die Nase nicht gespürt und immer schon die Hände aneinandergerieben hast, wenn du irgendwo reinkommst. Und dann kommt der erste schöne Tag, und es bleibt noch eine Weile kalt, aber du weißt auch, dass bald alles besser wird.“

Welchen Titel hättest du dem Buch gegeben?

Corgi-Wolken

Wer dieses Buch mag, mag auch …

Es lässt sich so schlecht in ein Genre einordnen – aber ebenfalls zum Thema Depression und mit Schauplatz Ruhrgebiet, etwas leichter, aber auch nicht seicht: Meine fremde Freundin von Jenny Bünnig.

Alle Menschen sollten dieses Buch lesen, weil …

… niemand seiner*ihrer Vergangenheit komplett entfliehen kann und jedes Verhalten eine Ursache hat, die wir nicht kennen, die uns aber vielleicht in unserem Urteil milder machen würde.


Das Buch:
Lisa Roy – Keine gute Geschichte
Rowohlt Buchverlag
Hamburg 2023
240 Seiten