Hier schreiben im Wechsel Autor*innen aus dem Rheinland über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind. Heute: Vera Vorneweg.
Ein eisiger Wind weht auf den U-Bahn-Gleisen und ich muss länger auf meine Bahn warten als geplant. Als ich mich setze, fällt mir erneut auf, wie ungünstig die Wartestühle an den Haltestellen konstruiert sind: kaltes Metall und die Sitzfläche etwas zu tief, sodass man immer denkt, dass man fällt, wenn man sich hinsetzen will.
„Ich hasse die Welt“, sagt plötzlich eine Stimme neben mir und in diesem Moment lässt sich ein Mann neben mich auf die Sitze plumpsen. Der Mann hat einen Schnäuzer und trägt ein rotes Käppi, in seiner Hand hält er eine blau-weiße Plastiktüte. „Ich hasse die Welt“, wiederholt er stöhnend, „ich habe Kopf- und Bauchschmerzen gleichzeitig. Man hat mir 35 Zentimeter meines Enddarms herausgenommen.“ Irritierenderweise lächelt der Mann, als ich ihn anschaue. „Das tut mir leid“, sage ich.
Sein Blick wandert zu dem digitalen Infoscreen mit den Nachrichten, in denen verkündet wird, dass Fortuna das Spiel am Sonntag 2:1 verloren habe. „Ich war früher auch oft im Stadion, da muss man echt aufpassen, sonst wird man zerquetscht. Aber es gibt auch viele Leute, die nur hingehen, um sich aneinanderzudrücken.“
In diesem Moment muss ich an eine Dozentin von damals an der Uni denken und dass sie uns einmal zu einer Kuschelparty einlud. Wir fanden das alle witzig und kicherten, als sie das sagte, aber keiner ging hin. Mein Blick wandert zur Anzeigetafel, noch drei Minuten, bis meine U-Bahn kommt. „Was machen wir denn jetzt?“, fragt der Mann, und ich beginne in meiner Tasche zu graben, in der Hoffnung mein Handy zu finden. Zudem frage ich mich, warum er die Wir-Form benutzt. „Zum Skat ist zu wenig Zeit, aber wir könnten Stadt-Land-Fluss spielen.“
„ Ich atme für einen Moment auf: Wer hustet, kann nicht sprechen. “
Ich finde mein Handy und beantworte meine Nachrichten, was den Mann nicht davon abhält weiterzusprechen. „Ach, das wäre toll, wenn wir jetzt beide eine Stadt-Land-Fluss-App hätten, dann könnten wir jetzt spielen, also vielleicht sollte ich die mal entwickeln und dann würde ich reich werden.“ Er beginnt zu lachen, was sich gefährlich anhört, alles in seiner Lunge rasselt und aus dem Lachen wird schnell ein Husten, das nicht so schnell aufhört. Ich atme für einen Moment auf: Wer hustet, kann nicht sprechen.
Als die U-Bahn einfährt und uns die Haare dabei aus dem Gesicht pustet, bin ich die Erste, die aufsteht. „Darf ich mich neben Sie setzen?“, fragt der Mann, der direkt hinter mir eingestiegen ist. „Ich muss mich aber in Fahrtrichtung setzen“, sage ich, „das ist für mich auch kein Problem“, antwortet er. Mit einem Ruckeln fährt die Bahn los. „Ich freue mich einfach nur, wenn ich ein Eis essen kann“, sagt er. „Es sind die einfachen Dinge, die zählen“. Kurz überlege ich, dass sein Hass auf die Welt erstaunlich schnell verflogen ist, denn noch immer lächelt er.
Kurz darauf kommt eine Kontrolleurin und alle beginnen in ihren Taschen zu kramen – nur der Mann neben mir macht keine Anstalten, sein Ticket hervorzuholen. Stattdessen starrt er auf den Oberkörper der Frau, die soeben eingestiegen ist und sich uns gegenüber gesetzt hat. Unter ihrem schwarzen Mantel scheint ein lila Kaschmirpullover hervor. Nachdem alle ihr Ticket vorgezeigt haben, stellt sich die Kontrolleurin vor den Mann und hält ihm die Hand hin. „Na, wat wolln se denn von mir?“, sagt dieser ohne den Blick von der ihm gegenübersitzenden Frau abzuwenden. „Also dat Ticket wolln se sehen?“ Während er dies sagt, sind seine Augen vom Oberkörper der Frau zu ihrem Gesicht hochgewandert, er versucht Augenkontakt aufzunehmen, doch nichts in ihrem Gesicht regt sich.
Jetzt beginnt der Mann sehr langsam, sein Portemonnaie hervorzuholen. Dafür erhebt er sich mit einem kurzen Stöhnen von seinem Sitz, um an die hintere Tasche seiner Hose zu gelangen. „Ja, da könn se ja auch mal nen Wort sagen, dass se mein Ticket sehen wollen und nicht da so einfach rumstehen und nen alten Mann in die Bredouille bringen“, sagt er. Der Mann lässt sich seufzend auf den Sitz zurückfallen und beginnt zwischen den Scheinen im Portemonnaie nach dem Ticket zu suchen. „Sind se jetzt zufrieden?“, fragt er, als er der Kontrolleurin den Fahrschein entgegenstreckt, worauf die Kontrolleurin nur nickt und weiterzieht.
Derweil – die U-Bahn ist inzwischen an die Oberfläche gekommen – passieren wir ein Fitnessstudio, ein Fliesengeschäft und ein Fast-Food-Restaurant. Auf einer jeden vorbeiziehenden Plakatwand werden Rabattaktionen angekündigt: 50% AUF ALLES, ALLES MUSS RAUS, SPÄT SHOPPEN – ZUM FEIERABEND NUR SCHNÄPPCHEN. „Man kann ja an gar nichts mehr glauben, das ist ja alles Quatsch, an was sollte man glauben, vielleicht werden wir irgendwann von einem Schwarzen Loch verschluckt und dann ist alles gut.“ Ohne dass ich meinen Kopf vom Fenster abgewendet habe, redet der Mann weiter. „Die ganzen Elektroautos sind auch nichts, die Energiewende, was für ein Quatsch, da braucht man nur Strom, dann brauchen wir wieder ein Kernkraftwerk, dann entwickelt es sich wieder zurück.“
In diesem Moment passieren wir das Instagram-Museum, kurz darauf folgen Bürogebäude, dann ein Kiosk. Die Ampel zeigt Rot, die U-Bahn kommt zum Stehen, ich schaue auf die Uhr, noch zwei Haltestellen. „Ich wohne schon seit 30 Jahren in der gleichen Wohnung, ich habe noch eine große Wohnung, 650 Euro warm.“ Ich wende ihm wieder mein Gesicht zu und bemerke, dass er noch immer sehr zufrieden schaut. Die eingängliche „Ich hasse die Welt“-Stimmung scheint nun gänzlich umgeschlagen zu sein. Ich bestätige seine Freude über seine günstige Wohnung und erwähne, dass es derzeit in Städten wirklich schwierig sei, günstigen Wohnraum zu bekommen.
Jetzt fahren wir an einer Kirche vorbei, vor der noch der Weihnachtsbaum steht, leuchtend goldene und rote Kugeln hängen am Baum. „Ich glaube sowieso nicht an die Bibel, also ich weiß jetzt nicht, ob man das so sagen darf, aber wie soll es sein, dass die Welt in sechs Tagen erschaffen worden wäre, erst das Licht, dann die Dunkelheit, dann der Mensch, das ist doch absurd. Also haben wir vorher die ganze Zeit im Dunkeln gelebt?“
Vera Vorneweg ist freie Schriftstellerin und Künstlerin in Düsseldorf. Seit einiger Zeit schreibt sie nicht mehr ausschließlich auf Papier, sondern auch auf Steine, Container oder Rollläden. In Kleve hat sie die Wurzel eines Rhododendrons beschriftet – mit diesem Text.