Tiergartenstraße
Vera Vorneweg beobachtet das Treiben im Klever Tiergartenpark – aus einem Rhododendronbusch heraus.
für Rositha
Das Sitzen inmitten eines kleinen Eichenwaldes; überall winzige, aus dem braunen Blätter-Raschel-Boden geschossene Mini-Pflanzen, eine grüne Bodenoffensive – welches Land nur wollen sie gründen?
Der mächtig in den Himmel ragende rau-rindige Mutter-Eichenbaum, viele Kinder zu seinen Füßen geboren habend, wohlverteilt nur im Winzig-Schatten der umhertanzenden Hummeln aufwachsend, so viel Licht.
„Ich würde sagen, wir gehen spielen“, so der Vater zum kleinen Laufrad-Sohn und seine sofortige Korrektur des Soeben-Gesagten, „ich meine, du gehst spielen – nicht ich.“
Die immer wieder in den violett-braunen Blüten versinkenden Hummeln und ihre Tief-Tauchgänge, hinein in die Blütenkelche, hinein in ihr süßes Glück.
Die im Schutz der Rhododendronwurzel und inmitten des grünen Eichenwaldsprössling-Gemenges aufwachsende Kleinstkastanie, sich durch ihre blatteigene Form behauptend, fünf Finger und die tiefen, das Blatt einkerbenden Blattadern.
Die Starrheit der dickfleischigen, sich kaum im Nachmittagswind bewegenden Rhododendronblätter und die in ihnen liegende stoische Gewissheit, dass sie nichts erschüttern kann – noch nicht einmal der Winter.
Der das Gesicht vor Anstrengung verziehende Jogger und zwei kurz darauf folgende, im flotten Spazierschritt vorbeigehende Männer, „nun sie war doch extra in einer Frauenklinik“.
Das immer wieder durch das Vorbeirauschen der Autos unterbrochene Vogelgezwitscher und die das Notizbuch überquerende durchsichtige Eintagsfliege, mit ihrem Mini-Rüssel das Papier abtastend, keine Bleibe findend.
Der Summ-Anbahnflug einer aus unbekannter Richtung kommenden Hummel und ihr plötzlicher Auf-Ab-Gang in den Hoch-Tiefen der Luft.
Eine den Himmel durchzwitschernde Amsel und ihre Landung auf einem Ast-Arm des mächtigen Mutter-Eichenbaums, auf- und abwippend, ein Vogelspielplatz der Luft – keine Kameraden in Sicht.
Die Verwandlung des Farbtons der Rhododendronblätter durch die Nachmittagsstrahlen der Sonne; aus einem dick-dunklen, fleischigen Grün wird ein neongrelles Frühlingsgrün, fast plastikfarben.
„Aua! Wieder zurück!“ und ein die Kinderklage übertönender LKW, kurz darauf eine mit schwarz-strubbeligem Hund passierende Frau, „fein, Diego, fein!“
Die Bäume und ihre Schutzbedürftigkeit und der Wille der Menschen alles zu betiteln, mit Schildern zu versehen, SOMMERLINDE, TILIA PLATYPHYLLOS, HEIMAT: EUROPA, ALTER: 90 JAHRE, HÖHE: 28 METER.
Das Aufkommen des einen bestimmten John Burnside-Zitates: „Whenever we think of home we come to this: the handful of birds and plants we know by name“ und die kurz darauf folgenden Kiesel-Quietschgeräusche des sich anbahnenden Turnschuhpärchens, „hallo“.
Der efeuüberwucherte Baumstumpf und die fein glänzenden Glitzerschneckenspuren auf dem dunklen Blattgrün, dazu ein kleiner, schrill die Luft durchpfeifender Vogel und ein sich sofortig anschließendes Tschilp-Tschilp-Geräusch.
Die wenigen, bereits gefallenen Rhododendronblüten und ihre Noch-Schönheit zwischen den braunabgestorbenen Eichenblättern auf dem Boden, spinnenwebenüberzogener vergangener Herbstrest, kein Weg zurück.
Ein Tok-Tok-Geräusch und ein die kleine Holzbrücke überquerender Fahrradfahrer; rote Jacke, roter Kopf und ein schwarzer Helm – der Blick starr nach geradeaus gerichtet.
Die heilige Trinität der spazierengehenden Feierabendpärchen, eins mit Hund, zwei ohne; zwei mit Sonnenbrille, eins ohne, finde das Muster.
Die schwarze, dickleibige, neon glitzerpink-grün in der Sonne schimmernde Großfliege, ein buntschöner Flugkörper, alles ist da.
Das Schreiben: Ein Eingriff in die Natur? Wenn ja: Dann aber ganz behutsam, zart, nur mit dem Gewicht einer Fliege.
Ein telefonierender Vater und das einhändige Schieben des Kinderwagens, kurz darauf folgend ein Mann mit gelber Daunenjacke, „hallo“, „hallo“.
Die Gänseblümchenwiese und zwei sie bewundernde Frauen, die eine mit roter und die andere mit grüner Tasche; „Bergahorn, das ist Bergahorn“ und ein sich zu Boden bückender und Blätter aufsammelnder Mann.
Ein sich neigender Kopf, ein Mann mit Hut und Frage, „ich schreibe über die Natur“, „danke für die Demonstration“.
Das Klack-Klack-Geräusch der auf den Kiesparkboden aufkommenden Nordic-Walking-Sticks des Damen-Sport-Trios, fröhlich beim Gehen schnatternd, unerschöpfliche Mini-Dramen über die Familie referierend, nur die Sprechmelodie weist Variationen auf.
Der vertrocknete, in den Eichensprössling-Wald hineingeworfene Ast eines Nadelgehölzes; sich fein ablösende Nadeln – ein Weihnachtsbaum-Mahnmal, ein Jahreszeiten-Monument.
Ein den Stamm erklimmender Specht, in rasantem Tempo gen Baumkrone kletternd, immer wieder seinen spitzen Schnabel auf die raue Rinde schnellen lassend, wohl-hohlige Nachmittagsbaum-Geräusche erzeugend.
Die sich anbahnenden Mensch-Murmel-Stimmen und das Erneut-Passieren zweier Walking-Ladies – die eine mit roten Lippen, die andere, die Nicht-Sprechende: ungeschminkt.
Der sich durch die Luft wiegende eine bestimmte Löwenzahnsamen, nichts von dem Ort seiner Ankunft wissend, vollkommen frei fliegend, ohne auch nur einen Gedanken seiner Zukunft schenkend.
Zwei spazierende Männer mit einer Frau in der Mitte, alles Gesehene aufzählend, „Sommerlinde“, „Efeu“, „schau, Heinz, diese Blütenpracht“.
„Ja, ich war fleißig“, eine Frau in Violett und ein Mann in Blau, flattrig-plapprig vorbeischwebend, „eins und drei ist schon mal gut“.
Eine ebenfalls in tiefe Gespräche versunkene, passierende Frauengruppe, das innere Rad eines äußeren Rades repräsentierend – der Rest bleibt Geheimnis.
Die brumm-summige Landung einer übergroß schwarz-fleischigen Fliege auf der nackt-glatten Rhododendronwurzel und das beginnende Putzen ihres Körpers.
Sich aneinanderreibende Kleinsthinterfüße, kurz darauf eine Hinterkopfwäsche mit den über das Fliegenhaupt fahrenden Vorderfüßen, ein Schauspiel der Natur mit nur einer Heldin, ein Ein-Heldinnen-Epos.
Der vorbeilaufende Jogger im roten Trikot, einen leichten Fahrt-Flugwind hinterlassend, und die eine, bereits vertrocknete Rhododendronblüte mit darunter ruhendem Samenkörper, noch klein und hellgrün, noch nicht.
Der Hund Heinrich und der freundliche Besitzer, „er ist noch sehr jung, er spielt immer mit unserer Enkelin; ach ja, Sie sind die Künstlerin, die auf Wurzeln schreibt.“
Das Sonnenuntergangs-Abendlicht, noch einmal hell und warm die Park-Baum-Wiesenlandschaft erwärmend, die von Menschenhand gezähmte Natur illuminierend.
Die Sonnendurchschienenheit der Eichenbaumblätter, ihre Vieladrigkeit hervorhebend, schön mäandernd-strukturierte Blatt-Linien-Ordnung, bekannte Muster, Sicherheit.
„Ich hatte einen Kollegen, der ist zwanzig Jahre nicht gegangen“ und das erneute Auftauchen der Walking-Lady-Großgruppe, zum wiederholten Male ihre Kreise um das Rhododendron-Meer ziehend.
Das Schreiben auf Wurzeln unter Zuhilfenahme der eigenen Wurzeln und die Immer-Wieder-Frage nach den Möglichkeiten der Offenbarungen aus der Erdmitte, hervorgehoben und geborgen durch das Schreiben, Botschaften aus einer anderen Tiefe.
Ein Paar, ein Hund und ihre insgesamt acht vorbeigehenden Beine sowie eine das Bild durchkreuzende Hummel, dichtgefolgt von einem LKW-Rauschen.
Eine sich anbahnende Stechmücke und ihr vergeblicher Versuch der Hautfindung – du nicht.
Eine Frau in türkiser Hose und ein neben ihr schlurfender Mann mit Rollator, „dann wollen wir mal gucken, ob es heute Kaffee gibt.“
Der sich nun in das Feierabendverkehrsgeräusch hineinmischende Kuckucksschrei, langsame Einkehr des Abends, das Licht ist bereits gedimmt.
Ein krächzender Aufschrei aus dem Hintergehölz unbekannter Kehle; da, wo es wehtut, da sehnt sich etwas, da spannt sich ein Bogen.
Das nur sehr kleine sichtbare Himmelsfenster, grün eingerahmt von mächtigen Baumkronen, und der jetzt auffallend groß-schwarze, das Blau durchfliegende Vogel, im Nirgendwo irgendeiner Baumkrone landend.
Das Klimpern der Hundehalsbandmarken der vielen Vierbeinigen und das So-Erkennen der sich anbahnenden Spaziergänger, „schönen guten Abend“, „da schreibt es sich schön, so im Grünen“ – „ja“.
Ein sehr laut atmender Jogger und das damit verbundene Bild eines aufziehenden Sturms, ein Tosen und Brausen und Klatschen – nur von einem Mann ausgehend, Flut.
Die Verbindung des Menschen mit seiner Natur und die In-Sie-Geworfenheit; eine Wiedervereinigung allein durch das Schreiben – es sind nicht diese Linien, die uns trennen.
Die eine etwas lose Holzdiele auf der Brücke und das immergleiche hohle Klackgeräusch beim Herüberschreiten und die So-Ankündigung eines Menschen, wie ein Warnsignal, Vorsicht, hier komme ich.
Das Abendlicht und die Verwandlung der schon braun-vertrockneten Rhododendronblüten in einen Goldglanz, auch unter meiner Haut ist Sommer.
Der raue Stamm der Sommerlinde und ihre damit verbundene Nicht-Aufforderung zum Anfassen und die unter dem Baum liegenden vertrockneten Blüten einer unbekannten Pflanze, auch du wirst zu einer Erinnerung werden.
Zwei joggende Frauen und ihre langen, zu zwei Zöpfen gebändigten, hin- und herfliegenden Haare, die eine, die zur Uhr Schauende, „schon vier Kilometer“, die andere, „sollen wir noch Übungen machen?“
Die mit wilden Augenblicken über meine Erinnerung herfallende Natur, ein Hund, eine Taube, ein Kaninchen, ein Schrei, „Schluss jetzt! Hierher habe ich gesagt! Hierher!“
Die knorrig herunterhängenden Großbaumäste und ihr immer noch stoisches sich Nicht-Wiegen im Abendwind, baumalte Gelassenheit; ich bleibe immer Schülerin.
Der der reinen Anschauung dienende Garten und die eine verirrte, durch das gelbe Blumen-Meer huschende Amsel; wo ein Garten, da ein Mensch; da einer, der das Wilde zähmt.
Vita
Vera Vorneweg, geboren 1985 in Mülheim an der Ruhr, lebt in Düsseldorf. Studium der Sozialen Arbeit und Philosophie. Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften, 2022 erschien ihre Erzählung „Kein Wort Zurück“. Seit 2020 beschreibt sie Objekte im öffentlichen Raum. Für diesen Beitrag legte sie sich einen Tag lang im Klever Tiergartenpark auf die Lauer und beobachtete. Im Anschluss trug sie den Text auf eine Rhododendronwurzel auf, dieser ist – mit etwas Glück – noch heute dort zu lesen.