Textstellen

Die Ballade von der Cilly aka Mutter Courage

Jennifer de Negri über eine Widerstandskämpferin der sogenannten Ehrenfelder Gruppe im Umfeld der Edelweißpiraten.

Ich kann Dich nicht mehr fragen
Aber ich stelle mir Dein Inneres
Wie ein stehengebliebenes Haus
In einer Straße voller Trümmer vor

Ich wäre vor Angst umgekommen
Bestimmt hattest auch Du Angst
Wer warst Du? Mutter & Tochter?
Geliebte, Frau, Mensch? Ne Rote?

Ich sehe Dich in einem Fernsehinterview
Da sitzt Du an einem Tisch, Du strahlst so
Viel Bodenständigkeit aus, in Technicolor
Du redest, erzählst & endlich hören wir zu

Cilly S., meist ohne Nachnamen, ohne Gedenken
Dabei warst du doch Dreh- und Angelpunkt einer
Widerstands-Gruppe, die keine feste Gruppe war
In der Schönsteinstr. Nr. 7, Olga, Du, aus Ehrenfeld

Nachdem alles abgebrannt war, beim Lugangriff
Vom 21.4.1944 lebst Du mit dem Steinbrück Hans
Dort im ausgebombten Haus. Der war ausm Lager
Entkommen, beim Bombenräumdienst geflohen

Das war eine Ruine, die war ausgebrannt
Da waren drei Zimmer, die waren nicht so
Stark beschädigt, die hast Du in Ordnung
Gebracht, die hast Du bewohnt mit Hans

Zum Nebengrundstück war eine Mauer
Und über diese Mauer sind sie geklettert
Hinab in den Keller, die Jungen, die Gruppe
& Du, durch zerschossene Wohnungen

Und durch Kellerruinen seid Ihr gestreift
Der Hans hat krumme Dinger gedreht
Den Buttercoup & Du den Widerstand,
Hast Kartoffeln besorgt, Du, und Brot

Das Essen hast Du gekocht & in Deiner Wohnung
Vor der Deportation die Frauen versteckt, Friedel
& Ruth Krämer, im Keller, die Juden, Deserteure
Und wer alles um Hilfe ersuchend zu Euch kam

Mit Hans hattest Du ein Kind
Zu Deinen zweien noch dazu
Wie hast Du Familie gelebt?
Worauf gehofft, wofür gekämpft?

Warum hast Du Dich getraut?
Du sagst: „War ja alles gefährlich
Jede Nacht war gefährlich
Jeder Tag war ja gefährlich

Die Bomben und das – das Leben das
War ja damals irgendwas, was nichts
Gar nichts mehr wert war, es konnte
Jeden Moment ausgelöscht werden.“

Wenn Gefahr im Verzug war, dann
Hast Du am Klingelzug gezogen
Also waren die Jungen gewarnt
Die sich im Keller versammelten

Dort waren Wände durchbrochen
Damit sie jederzeit fliehen konnten
An einem Draht in Deiner Wohnung
Hast Du gezogen, der ging vom Haus

An der Mauer vorbei unten in den Keller
Hinein, da war eine Klingel, eine Schelle
Dran, die Glocke, um Alarm zu schlagen
Am 2. Oktober 1944 dann war es so weit:

Die Sabotagekommission war da, sie wussten
Bescheid über Euch. Deine Kinder brachten sie
Ins Waisenhaus, nach Brauweiler gings für Dich
& die verlorenen Frauen, Ins Gestapogefängnis

Noch hatte Hans versucht Dich zu befreien
Mit Gewehren, Pistolen bewaffnet nahmen sie
Das Haus unter Beschuss, da warst Du schon weg
Doch Hans wollte mit Bomben sich beladen

Versuchte den Einbruch ins Munitionsdepot
Darauf hat ein Schupo den Hans erwischt, der
Schoss den Wachmann um, Gestapo hat Hans
Erwischt, so waren sie alle verhaftet oder tot

Deinen Entschädigungsantrag haben sie abgelehnt
Im Kölner Amt: „Ihre Angabe, sie sei aus politischen
Gründen inhaftiert worden, treffe nicht zu.“ sagten sie
Und im Fernsehinterview, Jahre später, sagst Du:

„Ich meine, wenn jeder was dabei getan hätte
Dann wäre ja vielleicht auch manches verhindert
Worden, aber Sie wissen doch, wie das Volk war.“
Doch Dich gab es, Cilly S., geborene Cäcilie Servé

Vita

Jennifer de Negri lebt in Köln und schreibt Lyrik und Prosa. Sie erhielt diverse Literaturpreise und Stipendien, 2023 war sie als Writer-in-Residence am Center for Literature in Münster. Als Studierende in Ulm und München begegnete sie immer wieder Spuren und Geschichten des Widerstands im Dritten Reich, verkörpert durch die Weiße Rose; von der Ehrenfelder Gruppe „Edelweißpiraten“ erfuhr sie jedoch erst in Köln. Im Rahmen der Straßengeschichten – ein Literaturformat des Kölner LAND IN SICHT e.V., für das Autor*innen literarische Texte zu historischen Orten schreiben und diese Texte auf einem Spaziergang mit Publikum vorstellen, – recherchierte sie das zu Unrecht in Vergessenheit geratene oder so wenig über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannte Leben der Cilly Servé.