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Z. wie Zauber (Taverna Z. – revisited)

Thomas Hoeps erinnert sich an einen legendären Treffpunkt des Krefelder Nachtlebens.

Das waren mal die letzten Meter vor dem finalen Absturzbier. Gleich hinter dem Traditionsjuwelier rechts rein, die Gasse entlang an der Horten-Anlieferung vorbei (Bronx en miniature). Die nahm man richtig erst auf dem Rückweg wahr, eher ein düsterer Innenhof, an dessen einer Seitenfassade ein blaugeschwungener Schriftzug aus den Fünfzigern noch bis tief in die Neunziger hinein stur eine Eisdiele behauptete, die es lang schon nicht mehr gab – ein von Feinstaub patiniertes Memento mori. Gut, dass man es im Rücken hatte, wo man doch gerade drauf & dran war, sich freudig schräg gegenüber ins Getümmel des Z. zu werfen.

Sidestep. Cut, ein kurzer Stopp – und Eintritt in die erste rapid eye movement-Phase. Dumpfhölzernes Zuschlagen der Tür treibt die Blicke hoch. Schnellstes erstes Abchecken des heutigen Bühnenpersonals, schlechte Karten für die Baggerführer: Der weibliche Anteil des Aushubs bewegt sich zahlenmäßig gegen trostlos. Pulsberuhigung, Ende REM-Phase I, Thekengang, drei Mark aus der feuchten Hand für Bier. 300 Musikkassetten neben Hartgas – auf allen ist die eine gleiche Melodie: Taverna Z. – just fake.

Als es noch die harte Sperrstundenregel gab. 01:00 Uhr, wie sollte, wie konnte es da enden? War doch längst das letzte Bier noch nicht getrunken, längst nicht alles besprochen, noch nicht jeder schale Witz gemacht und die Aussicht auf einen neuen Anfang zu zweit im Dunkel der Nacht noch immer nicht verreckt. Also raus aus der Kneipe, hinein ins Z. mit der Lizenz zum Trinken und Speisen bis drei.

Sowieso wartete zu Hause nur die von Oma geerbte Farbbildröhre. Mit Programmschluss seit spätestens Mitternacht, aber immerhin einem Sender, der das Testbild, die streng gerasterte Mahnwache eines protestantischen Arbeitsethos, auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen hatte und stattdessen mit einem Prä-Webcam-Dauervideo das leichte Leben abfeierte: Fröhliches Treiben am Venice Beach of Santa Monica.

Später in der Nacht würde man aus der niederrheinischen Tiefebene dankbar dorthin flüchten, Kontrast und Helligkeit der Mattscheibe auf Null gedreht, um in synästhetischer Verwirrung bei jauchzendem Stimmengewirr in feinster Seeluftillusion milde einzuschlafen. Doch vor die einsame Rückkehr an diese fernen heimischen Gestade setzten die tyrannischen Götter des Nachtlebens den Traum von der Zweisamkeit inmitten eines Great Folk ’n‘ Sirtaki-Swindle.

Von wegen Schwindel! Kluge Kerle sind das, Zauberer! Blasen dir das Hirn ganz frei mit dem Folkloredummgeleier, woran erinnert das denn schon, abgesehen vom letzten Urlaub fällt dir dazu doch rein gar nichts ein – da geht die Hirnbewegung gegen null – macht es allen leichter. Und keine Baggerei wird plötzlich bitterböse abgebrochen, weil irgendeine dumme Schnulze ultrahochfeinaufgelöst ein möglichst tief vergrabenes Gesicht in den Hinterkopf hineinpositioniert und dort zum Explodieren bringt. Nichts also davon und jeder darf sich drauf verlassen: In diesem Laden herrscht die Jetztzeit eins zu eins.

– Jetzt die Blickfangnetzhaut aufgespannt – und Pulsanstieg – macht die Augen glänzen. Mein Poesiealbum hat noch ein paar Seiten frei, leih dir auch‘n Stift.

Männliche Ansprache von links, schneller Pulsabsturz, Augenwanderung bei wortreichen Geschichten mit selbstbedienungsmäßig auffüllbaren Sinnlücken.

Pinkeldrang bringt das Spiel in eine neue Runde.

Nach drei Minuten Auszeit gut getimter Pulsanstieg, in die Flussenge zwischen Klos und Theke sauber eingeströmt und immer wieder Fleisch gestoßen: bringt den Stoffwechsel auf Trab. Am dritten Tische wieder ausgespuckt, den da hinten vollversackten Freund mit Jonasblicken angemahnt und schnell den freien Stuhl besetzt, bevor das Hirn die Glieder ausgeschaltet hat.

Von da an glotzt der Blick auf himmelblaues Griechenland mit Strandbetrieb, darunter baggert einer gleich mit Schaufelrädern und merkt gar nicht, dass sie grad‘ fremdes Augenlicht zu stehlen sucht für ihre Sammlung.

Aus wie vielen Kneipen der Innenstadt kamen wir Gestrandeten im Z. zusammen? Welche sonst so wohlgetrennten Blasen vermischten sich im Z. im Ziel, bloß noch nicht nach Hause zu müssen, die unerschöpfliche Feierlust auszuleben oder auch vor Einsamkeit und Trauma einen letzten verzweifelten Haken zu schlagen? Dazu die Theaterleute, Kellnerinnen & Kellner, Wirte & Wirtinnen anderer Läden, die nach getaner Arbeit auf ein Feierabendbier zum Souvlaki einfielen. Das Adrenalin schläft nie.

Es war laut, es war voll, und es war genauso ehrlich wie der Preisaufschlag auf das Essen nach Mitternacht. Die Sperrstunde als Auslöser eines demokratischen Nachtlebens. Wir waren ein Volk (das nicht ins Bett wollte). Und doch, oder gerade deswegen: Wahrscheinlich haben nur alkoholische Schmiermittel und die Angst vorm Hausverbot verhindert, dass hier regelmäßig Köpfe eingeschlagen wurden. Gehört habe ich jedenfalls nie davon. Kaum vorstellbar freilich, dass am Ende wirklich alle, Männer und Frauen, immer heil aus der Sache herauskamen – was die Akten nicht erzählen; außer Mord ist alles längst verjährt.

Gegen drei Uhr drängt nun doch die Zeit, bedröhnte Augen werden sinnlos aufgerissen, Pupillen fliegen schnell und wahllos, in den Kopf wird viel, viel Bier geschüttet. Wer sich jetzt noch an den Bänken festkrallt, hat schon längst verloren.

Da versetzt der Wirt der letzten Hoffnung einen Stoß, macht die Theke dicht und treibt mit herben Lichtgewittern die halb Erstarrten aus dem Z.

Mit der Verlängerung der Sperrstunde auf zwei Uhr irgendwann in den Neunzigern waren die glorreichen Zeiten im Z. für uns vorbei. Die letzte Glasleerung im alten Domizil noch auf Viertel nach gestreckt, lohnte sich der nächtliche Ortswechsel kaum mehr.

Irgendwann blieb die Tür jedenfalls dauerhaft zu. Nach ein paar Jahren Leerstand wurde das Z. komplett renoviert unter gleichem Namen wiedereröffnet. Inzwischen logiert dort ein koreanisches Restaurant. Es ist ohne Extravaganz stilbewusst und mit Sinn für geometrische Ordnung eingerichtet. Ich hätte nie gedacht, dass ich die alte Griechenhöhle mit ihren hanebüchenen Fresken und zerfurchten Holztischen so vermissen würde.

Es heißt, das Sterben der Kneipen habe zwar viele Ursachen, eine entscheidende aber sei, dass die jüngere Generation lieber preiswert zu Hause trinkt und sich seine Partnerinnen und Partner ertindert – mit anschließendem first date im koreanischen Restaurant.

Keine Ahnung, ob das gesünder und nachhaltiger ist, es geht mich auch nichts an. Aber die leichte, flirrende Nervosität auf dem Weg von sagen wir dem Blauen Engel zum Z., die Vorfreude darauf, was einen in dieser Nacht noch alles erwarten und wen man noch treffen würde, der Spaß dort, ja selbst die Enttäuschungen, all das hatte einen ganz besonderen, unvergesslichen Zauber, zu dem nicht zuletzt auch die späten Heimwege durch die unruhig schlafende Innenstadt zählten.

Ein paar Versprengte suchten ihren last exit noch in der „Ewigen Lampe“. Mich aber führte mein Weg in die entgegengesetzte Richtung, nach Hause zum Venice Beach of Santa Monica und dem sanften Anschlagen der Wellen an Land, das mich wie immer verlässlich in den Schlaf zog.

– und ist gedankenfrei in tosend schnellen Bildabfolgen eins a abgetaucht. der alp aber ist ein kaukasischer Adler.

Anmerkung: Die kursiven Passagen entstammen dem Prosatext „Taverna Z.“ aus: Thomas Hoeps: gib dem onkel die hand (, die schöne!). Sassafras Verlag, Krefeld 1994.

Vita

Thomas Hoeps, geboren 1966, studierte in Düsseldorf und Dresden Germanistik und promovierte über Terrorismus in der Literatur. Seit 1994 veröffentlicht er Romane, Erzählungen und Gedichte. Er erhielt u.a. den Düsseldorfer Literaturförderpreis und den Nettetaler Literaturpreis. Von 2007 bis 2022 schrieb er zusammen mit dem Niederländer Jac. Toes fünf Kriminalromane und Thriller, die u.a. für den niederländischen und den belgischen Krimipreis sowie den Glauser-Preis nominiert wurden. Er lebt in Krefeld, wo er das Niederrheinische Literaturhaus leitet.