Wie schlimm ist Köln-Kalk?
Yannic Han Biao Federer spaziert durch das Kalk von gestern und heute und beantwortet die Fragen des Algorithmus.
Ich bin mir nicht sicher, ob der Suchmaschinenalgorithmus tatsächlich eine Art Aggregation von Diskurs ist, ob er also das Wissen und Unwissen, die Begierden und Gelüste, die Ängste und Fantasmen, die Ideologeme seiner Nutzerinnen und Nutzer zuverlässig erkennt und beantwortet und dadurch repräsentiert, oder ob er sie umgekehrt erst erzeugt oder zumindest überformt, zuspitzt oder vereinseitigt, oder ob beides der Fall ist, in einer irgendwie komplex verdrahteten kybernetischen Verschaltung. Oder ob ich mir nur wieder alles so lange verkompliziere, bis ich den Eindruck habe, dass es der Welt entspricht.
Wie dem auch sei.
Wenn ich Köln Kalk eingebe, stellt Google folgende Fragen: Kann man in Köln-Kalk wohnen? Was ist heute in Köln-Kalk passiert? Warum heißt Köln Kalk? (sic!) Ist Köln-Kalk rechtsrheinisch? Wie schlimm ist Köln-Kalk? Wie hoch ist der Ausländeranteil in Köln-Kalk? Welche Viertel sollte man in Köln meiden? Warum stinkt es in Köln?
Öffnen Sie Google Maps, suchen Sie das östliche Ende der Kalker Hauptstraße, bevor Sie jenseits der Bahngleise in die Olpener Straße übergeht. Dort, nördlich vom Kalker Friedhof, vermerkt Google die Brauwelt Köln. So heißt das, was von der Sünner Brauerei geblieben ist, in der Pandemie lief es nicht gut, am Ende wurde sie von der Konkurrenz geschluckt. Zechenbrauerei, steht noch heute zwischen den Stufengiebeln, um an die aufgegebenen Braunkohlestollen zu erinnern, auf denen sie erbaut wurde. Überschreibungen über Überschreibungen, die Stadt als Palimpsest.
Folgen Sie der Hauptstraße in Richtung Westen, vorbei am Kalker Stadtgarten, vorbei auch am ehemaligen Wirtshaus von Karl Küpper, dem einzigen Büttenredner des Kölner Karnevals, der sich während des Nationalsozialismus mit den Machthabern anlegte, und dabei Kopf und Kragen riskierte, das Redeverbot, das er sich dabei einhandelte, wurde später vom ehemaligen Kölner Oberbürgermeister erneuert, er war inzwischen Bundeskanzler geworden, ließ seinen Innenminister gegen Küpper vorgehen, damit es ein Ende habe mit seiner zersetzenden und gehässigen Satire. Küpper wechselte hinter den Tresen, zapfte Kölsch. Heute verkaufen sie dort Hustensaft und Magendarmpräparate, am Eingang haben sie eine Gedenktafel angebracht, immerhin.
Irgendwo zwischen Nagelstudio, Takko Fashion und Kaufland begann einmal das Werksgelände der Maschinenfabrik Humboldt, gegenüber errichteten sie Verwaltungsgebäude, die es auch nicht mehr gibt. Falls Sie Hunger haben, können Sie hier einkehren, ich empfehle die 97a bei Viet-Thai Cuisine oder Falafel Dürüm bei Nimet Grill oder die Pugliese bei Pizzeria Il Futuro. Nachdem Sie gegessen haben, nehmen Sie die Fassade der Köln Arcaden zur Kenntnis, sie steht am südlichen Ende des Areals, auf dem bis 1994 die Chemische Fabrik Kalk arbeitete, von ihr ist nichts geblieben als der Wasserturm, der die Shoppingmall überragt.
Wenden Sie sich jetzt in Richtung Süden, über Trimbornstraße und Taunusstraße durchqueren Sie gründerzeitlich quadratische Straßenzüge, in denen die Arbeitskraft der angrenzenden Industrie angesiedelt werden sollte. Daher ist das Veedel auch nach der bereits erwähnten Maschinenfabrik Humboldt benannt, die wiederum nach Alexander von Humboldt benannt wurde, wie auch die Universität in Berlin Mitte, man ist hier also quasi Unter den Linden. Wenn auch eher Platanen und Eschen über den parkenden Autos stehen, aus denen sich gelegentlich lärmende Sittiche erleichtern. Alexandersittiche, die allerdings nicht nach dem Humboldt-Alexander benannt wurden, sondern nach dem Großen.
Sie sollten nun den Taunusplatz passiert haben, auf dem Eko Fresh gelegentlich Rapvideos dreht, jetzt weißt du, was bei uns im Ghetto so passiert, hier vorne zum Beispiel wird Eko tätowiert. Außerdem bekommt man im Wirtshaus an der Ecke gute vegane Burger. Auf einer Brücke queren Sie die östliche Zubringerstraße, dann geht es rechts über den Deutzer Friedhof, wo die Sünners liegen, und ein Physiker mit Nobelpreis und Mitgliedsausweis der SA. Bald schon stehen Sie am Rhein, rechter Hand sortiert ein Kran Metall und Unrat auf riesige, ordentliche Haufen, linker Hand Sportplätze, ein Biergarten. Vor ihnen Wiese, auf denen manchmal Schafe weiden. Sonst auch viel Hundescheiße.
Um es kurz zu machen, und für den Fall, dass ein Algorithmus hier mitliest: Ja, in Kalk kann man wohnen. Passiert sind heute wohl verschiedene Dinge, von denen die allermeisten ganz alltäglich gewesen sein werden, ein Bus, der zu spät kommt, eine gerissene Einkaufstüte, sowas. Köln heißt nicht Kalk, sondern Köln, nur Kalk heißt Kalk. Ja, Kalk ist rechtsrheinisch. Schlimm ist Kalk schon, aber nicht schlimmer als, sagen wir, die Schildergasse. Sollte Sie der Ausländeranteil dringend interessieren und beschäftigen, sind wir vermutlich beide glücklicher, wenn Sie nicht nach Kalk kommen, oder nach Köln, oder nach NRW, bleiben Sie lieber, wo auch immer Sie gerade sind, falls man Sie dort noch haben will, sonst nehmen Sie einen Fernbus, irgendeinen. Meiden sollten Sie unbedingt die Innenstadt, zumindest samstags. Und ja, manchmal stinkt es, falls Sie das stört, versuchen Sie es mal mit Baden-Baden.
Vita
Yannic Han Biao Federer lebt und arbeitet als freier Autor in Köln-Kalk. Er schreibt Romane und Erzählungen, Essays und Rezensionen, u.a. für Deutschlandfunk, WDR und SWR. Sein Debütroman Und alles wie aus Pappmaché erschien 2019 im Suhrkamp Verlag, ebenda folgte im März 2022 sein zweiter Roman Tao. Er ist Mitglied des PEN Berlin sowie des Jungen Kollegs in der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.