Textstellen

Wie der Baum der Erkenntnis nach Remscheid kam und was dann geschah

Şeyda Kurt erzählt eine Geschichte botanischer Aneignung.

Hinter dem Kriegerdenkmal streifte Adana ihre Unterhose ab. Sie sank in die Hocke, verharrte dort schnaufend, fluchend, der Schweiß quillte aus ihren Poren, eine Hand lag auf ihrem Gesicht, das unter der Sonne und dem Schmerz schrumpfte, mit der anderen stemmte sie sich gegen den kühlen Steinsockel, sie beschloss, ihren Hintern daran zu reiben. Zwischen Adanas Beinen brannte es wie auf dem Elektrogrill ihres Onkels. Sie schielte auf den warmen Urin, der im Umweg über ihren Knöchel auf den Sandboden traf und sich dort zu einer Blutpfütze kringelte. Adana merkte, wie hungrig und müde sie war. Die Blasenentzündung quälte sie seit sechs Tagen. Doch nichts quälte sie so sehr wie der Artikel, den sie morgens auf der Titelseite der kostenlosen Stadtzeitung entdeckt hatte, die sie wöchentlich für ihre Mutter aus dem Briefkasten fischte. Adana fragte sich, wer sowas las. Ihre Mutter nutzte das Papier, um ihre Flasche Berentzen Saurer Apfel zu umhüllen – wie sie es in einem amerikanischen Film oder in einer türkischen Serie gesehen hatte –, von der sie stündlich nippte. Manchmal schnitt sie einzelne Artikel heraus und klebte sie in ihr Tagebuch, aus deren Seiten sie eines Tages das erste feministische Magazin der Stadt zu gestalten beabsichtigte. Einen Namen hatte sie sich überlegt, Chronik der vertrocknenden Frau. Adana fieberte dem Tag der Veröffentlichung entgegen, denn sie wusste, ihrer Mutter würde wieder Großartiges gelingen. Und doch ekelte sie sich vor der Berührung mit dem rauen Papier und überreichte die Zeitung ihrer Mutter mit den Fingerspitzen, wie eine heiße Grillwurst. 

An diesem Tag war ihr Blick an dem Bild hängen geblieben, das die halbe Titelseite bedeckte. Es zeigte einen knorrigen Baum mit drei blattlosen Ästen, die sich in die Breite streckten. Der Stamm schien sie kaum tragen zu können. Das Holz war hell und an den meisten Stellen glatt, an anderen von dicken Sehnen durchzogen. Man hatte den Baum in bunte Girlanden und Stoffe gehüllt, so, wie sich Deutsche eine orientalische Braut vorstellten, dachte Adana. Eine Traube an Menschen hatte sich um den Baum versammelt, mit Sonnenhüten und Sonnenbrillen, der Schützenverein hatte ein Banner aufgespannt: Remscheid 1806 sagt Willkommen – durch Erkenntnis zur Treffsicherheit. Adana las: 

Mit einer feierlichen Umgrabung wurde der Baum der Erkenntnis am Freitagmittag in den Garten der Sinne im Remscheider Stadtpark gesetzt. Bürgermeisterin Mandy Harran bedankte sich für die Schenkung bei dem Öl- und Gasunternehmen Shell, das im Kölner Stadtteil Wesseling einen seiner größten Standorte betreibt. „Das ist eine große Chance für unsere Stadt und die gesamte Region. Wir brauchen gar nicht um den heißen Brei herum zu reden: Wir sind pleite. Am Arsch.“ Gretel Walter, Vorsitzende des ansässigen Schützenvereins und Ehrenmitglied im Stadtparkkomitee, brachte ihre Hoffnung zum Ausdruck, die Umpflanzung des Baums der Erkenntnis nach Remscheid werde mehr Touristen in die Stadt locken. Der Stadtparkteich müsse dringend saniert werden. „Was ist schon ein Park ohne Teich? Nix! Eine Wüste!“ Zu der Firma Shell gehört unter anderem die Basrah Gas Company im Irak, die ihren Sitz in der Nähe von al-Qurna hat, wo der Baum der Erkenntnis zuvor gestanden hatte. Hier wird der biblische Garten Eden vermutet. Wegen andauernder Dürre und Wasserknappheit im Ort hatte die Verwaltung al-Qurnah den Baum an die Firma Shell verkauft.

In der Nacht schwitze Adana schlaflos. Fünfmal schlich sie mit gekrümmten Gliedern in der Dunkelheit zur Toilette. Nebenan, im Wohnzimmer, hörte sie ihre Mutter in der Stille trampeln und grell lachen. Gegen Morgen schlief Adana mit glühenden Gedanken ein. Beim Frühstück bekam sie keinen Bissen herunter. Und doch breitete sich ein Gefühl der Klarheit in ihr aus, das sie zuvor noch nie gespürt hatte. Sie beschloss, den Baum der Erkenntnis zu stehlen, um ihn ihrer Mutter zu schenken. Mit Amazon Prime bestellte sie einen quadratischen Blumenkübel, den sie auf den Balkon stellen würde. 

Nun stemmt sich Adana auf. Sie lugt hinter dem Denkmal hervor. Die Sonne verschwindet hinten den Parkmauern. Sie fährt mit der rechten Hand über die dunklen Härchen auf ihrem linken Unterarm. Sie greift in ihrem Rucksack nach der Handschaufel, die sie in der Garage ihres Onkels eingepackt hat. Wie eine bedachte Kriegerin schleicht sie in den Garten der Sinne. Sie erblickt die Schemen eines Körpers, der am Fuße des Baums der Erkenntnis hockt. Noch bevor Adana ihr Gesicht erkennt, erkennt sie die dunkle Gestalt an der Flasche in der rechten Hand. Ihre Mutter redet in einer Sprache, die Adana noch nie gehört hat. Und sie könnte schwören, dass der Baum ihrer Mutter antwortet.   

Vita

Şeyda Kurt, geboren 1992 in Köln, studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. Als freie Journalistin und Kolumnistin schreibt sie für unterschiedliche Print- und Onlinemedien, darunter ZEIT ONLINE. Als Redakteurin arbeitete sie an dem Spotify-Originalpodcast 190220 – Ein Jahr nach Hanau, der 2021 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien von ihr das Buch Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls.