Textstellen

Von Schutzräumen

Gundula Schiffer über das Haus Belvedere in Köln-Müngersdorf.

Meine beiden Himmel haben sich längst vermischt. In Deutschland denk ich an Israel, in Israel denk ich an Deutschland. Die Kölner Sterne verblassen vor den weißgoldhell glänzenden Nächten in Kanaan. Seit jenem Schwarzen Schabbat rücken West und Ost in mir nicht mehr auseinander: Ich schreibe mit zwei Händen – dort treffen sie sich, meine zwei Länder, meine zwei Sprachen. 

Biege ich spätabends mit dem Fahrrad in den Lövenicher Weg ein, schlägt mir mit der kälteren Luft der Geruch von Stall und Pferden entgegen. Am westlichen Stadtrand bin ich ins „Dorf“ der Kindheit zurückgekehrt. Müngersdorf, das bäuerliche Veedel, hat immer auch Künstlerinnen und Künstler angezogen, so die Bildhauerin Hildegard Domitzlaff, die sakrale Kunst für Kirchen schuf. Sie lebte wie Heinrich Böll, der hier sein längstes Zuhause hatte, auf der Belvedere Straße. 

Der Bahnhof Belvedere erhebt sich als edles Bauwerk mit feinsinnigen Gedanken aus seinem bewaldeten, bodenständigen Umfeld. Das älteste deutsche Bahnhofsgebäude, dessen schlichte klassizistische Pracht derzeit noch kränkelt, stand Ende des 19. Jahrhunderts an der internationalen Eisenbahnstrecke, die erstmals Köln mit Antwerpen verband. Denkmalpflege und Förderverein versprechen seit Jahren die baldige Eröffnung eines Kulturzentrums.

Am 1. Dezember, gegen drei Uhr früh, wiegt mich der Taxifahrer in seiner urkölschen Redeweise. Während sich „alle meine Glieder“ nach Israel strecken. Der ganze Himmel flammt. „Das ist der Staub, den die Stadtlichter reflektieren“, höre ich. Später im Flugzeug entsinne ich mich, wo ich dieses Licht schon einmal sah. Nach dem 7. Oktober träumte ich, dass ich in Israel bin, in einem Haus mit Menschen, die mir nahestehen. Es werden Raketen auf unser Land abgeschossen – das Firmament ist in ein Dunkelorange getaucht. 

Das Bahnhofsgebäude diente Ausflüglerinnen und Ausflüglern aus dem Zentrum auch als Gasthaus. Man hat von hier einen schönen Blick auf Köln und sogar bis hin zu den sanften Ausläufern des Bergischen Landes. Heute prägt der Colonius-Turm mit dem leuchtenden Magenta-T der Telekom die Postkarte. Ich streiche oft um den alten Bahnhof; mit seinem sandfarbenen Anstrich ist er ein zarter Misrach, ein Schmuckbild, das mich zum Gebet nach Jerusalem wendet. In den anmutigen Jahreszeiten des Blühens spiegeln sich die Platanen in den langen Fenstern. Ich male mir den Salon aus, für den sich Schriftsteller, Malerinnen, Tänzer, Musikerinnen ins entrückte Müngersdorf aufmachen. Rauscht dann der Thalys Richtung Paris oder Regios Richtung Düren vorüber, sind meine Gäste so versunken ins Crescendo der Pirouetten oder in den nasalierten Sehnsuchtssang der Duduk, dass sie selbst diesen Lärm nicht hören. 

Mit ihrem Vestibül und Erker blickt die Villa wie mit einem Panzer versonnen in den Park. Der Bildhauer Hein Derichsweiler, der vorwiegend Tierskulpturen schuf, fand im „Haus Belvedere“ seine Klause. Nach ihm lebte und wirkte der Maler und Bildhauer Günter Maas für dreißig Jahre darin. Zuletzt war ich im August 2017 anlässlich einer Ausstellung mit Lesungen zum 100. Geburtstag von Heinrich Böll auf der Baustelle. In dem Schachbrettmuster im Eingang fehlten einige Fliesen und Holzbohlen verstärkten die alten Türen. Die Fenster auf der zweiten Etage glichen so blitzend frisch gestrichen und mit offenen Schlagläden den Gestalten schlanker weißgekleideter Frauen. Dahinter erstreckte sich – mit drei zierlichen Stühlen wie in einem Jane-Austen-Roman – der herausgeputzte Garten. Die gerahmten Collagen aus Zeitungsartikeln wiederholten oben das Schachbrett von unten.

Über den Bahnhof Belvedere und das Scholem-Asch-Haus, in dem ich mich befinde, binde ich Deutschland und Israel zu einem Knoten. Heute, am 23. Dezember sind ihre Himmel einander ähnlich: In Israel ist es kühler geworden, der Sturm reißt an Meer und Wolken. „Miklat“ heißt im biblischen Hebräisch „Zuflucht, Unterschlupf“; im modernen Hebräisch bedeutet dasselbe Wort „Luftschutzraum, Bunker“. Zweimal bin ich fast genauso schnell aus dem Asch-Haus zum Schutzraum gelaufen wie wieder zurück in das kleine „Heiligtum“. Das Herz rast beim ersten Sirenenton, bevor man denkt: damit man rennt. 

Ich spürte eine ungekannte Lust auf das Leben und zugleich neue Wut gegen die Raketen, die auf beide Arten des „Miklat“ zielen. Weil ich will, dass auch Israelinnen und Israelis bei dem Wort „Schutzraum“ nicht zuerst an eine Gefahr, sondern an ein Refugium denken. Menschen überall auf der Welt sollen in Schutzräume wie das Scholem-Asch-Haus oder das Haus Belvedere strömen, um dort allein oder gemeinsam glücklicher oder getröstet zu werden. 

Dezember 2023, Bat Jam, Israel / Januar 2024, Müngersdorf, Köln.

Vita

Gundula Schiffer, geboren 1980 in Bergisch Gladbach, lebt in Köln, nicht weit vom Haus Belvedere. Sie ist Dichterin und Übersetzerin, schreibt Lyrik auf Deutsch und Hebräisch. Sie hat Komparatistik sowie hebräische Sprache und Literatur in München und Jerusalem studiert und zur Poesie der Psalmen promoviert. Neben der essayistisch-übersetzerischen Biografie Wenn alles berührt über Tirza Atar (2019) und Gronau / Gauguin (2022) erschien zuletzt ihr dritter Lyrikband Hioba Hymore (2023).