Textstellen

Von Lichtungen, Mühlen und Fußfällen

Wolfgang Kubin über den Flecken Holzlar.

Jeder Umzug bedeutet einen Umzug von Wort zu Wort, wenn nicht gar von der einen Sprache zur anderen. Im Volksmund hieß Holzlar am Fuße des Ennert noch zu Beginn der 80er-Jahre „Korea“. Südkorea war damals arm, fast so arm wie China, und Holzlar stand dem anscheinend nicht viel nach. Es gab keine Verkehrsanbindung, und die Tonerde der Landschaft am Rande von Bonn half zwar einmal eine kleine Ziegelindustrie begründen, doch machte sie bei Regenwetter einen Gang zu Fuß gefährlich: Man glitt auf den unbefestigten Wegen aus, so wie heute noch, wenn man in den nassen Wäldern unterwegs ist und überlegt, ob der Name Ennert etwas mit dem Wort Ende zu tun hat.

Konfuzius meinte einmal, man solle rechten Gebrauch von den einzelnen Wörtern, Namen und Bezeichnungen machen. Er ging dabei naiv von einer Deckung des Begriffs mit einem Ding aus. Wir sehen es ihm nach, denn heute wissen wir manches auch nicht viel besser.

Die Silbe „-lar“ zum Beispiel erscheint in vielen deutschen Ortsnamen. Die alte Kaiserstadt Goslar fällt uns da schnell ein. Holzlar ist weniger bekannt. Und doch teilen beide Orte dieselbe Sprachgeschichte. Die einen erklären besagte Silbe im Sinne von „Hürde“ für die Tiere. Diese hatten eingepfercht zu werden, ein Zaun stellte für sie folglich ein Hindernis dar. Andere wiederum meinen, die Silbe stehe für Lichtung, was im Falle von Holzlar Sinn ergibt.

Das ehemalige Dorf war eine bäuerliche Ansiedlung in einem offenen Waldgebiet. Wer heute über den Ennert spaziert, trifft noch auf viele Lichtungen und Schneisen. Diese waren nicht nur Holzwege zum Abtransport des Holzes, sondern ebenfalls Gehwege der in der Alaun-Industrie tätigen Arbeiter. Eine evangelische Kirche gab es nur in Oberkassel, in Holzlar lediglich ein Grab für den dortigen Prediger, den Vater des Revolutionärs Gottfried Kinkel, auf einer Lichtung eben, wie heute noch zu sehen. Der Sohn hinterließ im Zuchthaus von Spandau ein nostalgisches Gedicht über den Alten Friedhof. Da fließt weiter der noch ältere Mühlbach vorbei.

Eigentlich sollte die Mühle, die bis 1965 in Gebrauch war, abgerissen und durch ein Hochhaus ersetzt werden. Der kleine Hain konnte aber durch die Bürger gerettet werden. Heute lässt sich dort gut sitzen und dichten. Es steht alles bereit: eine Bank, ein Tisch, ein Apfelbaum und ein Mühlrad, welches sich weiterhin dreht, ohne Schrecken für die Amseln.

Man kann nicht sagen, dass die Zeit dort stehengeblieben ist. Unweit finden sich Fußfälle, die das reichlich belegen. Sie sind neu, aber überliefern einen alten Brauch: Im Falle eines Todes traf man sich hier, um des Verstorbenen zu gedenken und dabei niederzuknien. Die Kreuze sind aus Holz; nicht unbedingt älter mag die Geschichte der Steinkreuze sein, die ebenfalls am Wegesrand stehen. In ihren Nischen finden sich fast immer Gestecke oder Vasen mit Blumen, ganz so als sähen Nachfahren selbst Jahrhunderte später noch an den Weglichtungen vorbei.

Für Martin Heidegger war die Lichtung ein Gleichnis unseres Seins und Daseins. Für Paul Langen, der sich mit seinen Schülern in den Tonlöchern vergnügte, war die Existenz eine Sache auf Leben und Tod. Für einen Unternehmer erlaubte das Foveaux-Häuschen einen Blick auf den Drachenfels gegenüber. Für Napoleon bot die größte Lichtung auf dem Ennert ein ideales Gelände zur Überwachung des Rheintals.

Ach, so viele Lichtungen, so viele Formen unserer unbändigen Sucht nach Leben!  

Vita

Wolfgang Kubin (chin. Gu Bin), 1945 in Celle geboren, eigentlich ein alter Niedersachse, dann nach dem Umzug ins Emsland / Münsterland ein typischer Westfale: wortkarg, störrisch, Bier und Schnaps. Seit Bonn (1985 bis heute) heiter und Wein. Zum Rheinländer machte ihn die erste Begegnung mit dem Rhein in Bad Godesberg. Nach gut einer Stunde Fußmarsch von der Bonner Innenstadt zum Schaumburger Hof wusste er mit Blick auf den Drachenfels: Hier, wo das Meer vorbeischaut, ist seine einzige, wahre und letzte Bleibe. Trotz aller Verlockungen aus China.