Textstellen

Über der Wupper

Sibyl Quinke über den Bismarcksteg in Wuppertal-Elberfeld.

Die Sonne des frühen Sommers lockt auch Irene ins Freie. Der laue Wind spielt mit ihrem Haar. Versonnen lehnt sie sich an das Brückengeländer, in das so filigrane Blüten geschmiedet sind ebenso wie die feinen Ranken im Eingangsbogen – diese Jugendstilelemente, sie strahlen Leichtigkeit aus. Die Brücke, sie ist nur für Fußgänger – um die Wupper trockenen Fußes zu überqueren.

Es ist ein Tag, an dem die Wupper ihre Seele spüren lässt. Irene stützt sich mit ihren Ellenbogen auf das Brückengeländer, ihr Blick ist auf das fließende Wasser gerichtet, das gleichmäßig und doch quirlig über Steine fließt. Am Ufer wachsen Röhricht und Sträucher und über ihr fährt mit kratzendem Geräusch die Schwebebahn, die den Fluss durch das Stadtgebiet begleitet. Irene schaut nach oben und sieht noch die rückwärtige Fensterfront der „Hängebahn“, wie Eugen Lange, ihr Konstrukteur, sie ursprünglich bezeichnet hatte. Gerne sitzt sie auch dort und schwebt so über dem Flussbett und folgt fasziniert dem Lauf der Wupper, wie sie sich durchs Tal schlängelt.

Die Wupper, die alte Dame, sie war nicht immer so gesund und natürlich. Schon tot geglaubt, wurde sie wiederbelebt. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie ihre roten, blauen oder grünen Tage, je nachdem welche Färberei ihre Abwässer in sie fließen ließ. Und nicht nur das, weiterer Unrat fand seinen Weg in den Fluss. Wen wundert es, dass keine Fische mehr in ihr schwammen. An manchen Tagen erhielten die Schüler sogar stinkefrei. Doch das ist Jahrzehnte her. Längst gehören die bunten Tage der Vergangenheit an.

Irene schaut weiter auf das lebendige Silber, wie es die Steine umspielt. Bei genauem Hinsehen erkennt sie Fische – inzwischen gibt es wieder mehr als 40 verschiedene Arten, die in diesem Fluss eine Heimat gefunden haben. Ein wesentlich größeres Interesse an den Wasserbewohnern hat jedoch der Fischreiher. Mit ausgebreiteten Schwingen schwebt er hinunter, s-förmig der Hals und seinen Kopf in den Nacken gelegt, senkt er sich. Seine hölzern wirkenden Stelzen zeichnen merkwürdige Muster in das strömende Nass, auf dessen Oberfläche sich sanft Wellen bewegen, auf ihnen tanzen rosa Blütenblätter von der Japanischen Kirsche, die wenige Meter stromaufwärts in voller Blüte steht. Der schlanke Vogel ordnet mit seinem spitzen Schnabel sein Gefieder, plustert sich auf, sortiert es, fettet seinen Kopf an den Puderfedern ein, seine schwarzen Schopffedern legt er auf den Rücken, bevor er sich akkurat hinstellt. Sein Blick kreuzt den von Irene, die immer noch entspannt das Wasserspiel unter sich beobachtet – zwei Gleichgesinnte, die das ruhige Wasser genießen. Und über ihnen kratzen wieder die Stahlräder über das Gerüst, der Metallwurm, der im Drei-Minuten-Takt mit der Wupper durchs Tal zieht.

Vita

Sibyl Quinke ist promovierte Apothekerin einer eigenen Art: Sie vergiftet bevorzugt ihre Opfer und beschreibt die Umstände dann in ihren Krimis. Ihre Leichen findet man überwiegend in Wuppertal. Die gebürtige Freiburgerin ist Wahlwuppertalerin. Aus allem, was sie über die Bergische Metropole schreibt, spürt man ihre Zuneigung zur grünsten Stadt Deutschlands. Ganz besonders mag sie die Wupper, wie sie sich durchs Tal schlängelt.