Textstellen

Taubenturm

Johanna Hansen über einen Rückzugsort für die Kunst in Kalkar am Niederrhein.

Er ragte aus meiner Kindheit heraus als eine Art Wachtposten der Fantasie, der Taubenturm auf der Stadtmauer in Kalkar. Als einziger von ursprünglich 16 Türmen der ehemaligen mittelalterlichen Stadtbefestigung war er übrig geblieben. In einer ungewöhnlichen Kombination, denn im unteren Teil lag das Gefängnis „Dueffstoern“ (Diebesturm). Darauf aufgebaut wurde im 18. Jahrhundert ein Belvedere, das den schönen Namen Taubenturm bekam, eine Wandlung von Dueff (Dieb) in Duive, plattdeutsch für Tauben.

Hier ist es selbst Erwachsenen erlaubt, den ganzen Tag zu spielen. Genau das dachte ich im zweiten Schuljahr, als wir einen Klassenausflug dorthin machten, um den Bildhauer Alfred Sabisch (1905-1986) und seine Skulpturen und Bilder kennenzulernen. Als ich die steile Treppe zum sechseckigen, weiß gekälkten Turm mit den grünen Fensterläden hinauf durfte. Als ich die Bilder an den Wänden bestaunte. Den blau-weiß gekachelten Kamin. Die Holzdecke mit dem Sternenmotiv in der Mitte. Damals begriff ich sofort, dass ich einen ungewöhnlichen Mann vor mir hatte, einen, der in seinen Garten selbst geschaffene Tierplastiken und Engel zwischen Stauden und Beete setzte statt Bohnenstangen. Die mir vertraute Männerwelt aus Handwerkern, Bauern, Gutsbesitzern und Kaufleuten brach krachend zusammen.

Das veränderte mich.

Jahrzehnte später, an einem mürben Dezembertag, bin ich erneut zu Besuch. Das würfelartige Haus hinter der Stadtmauer, mit Atelieranbau, großen Glasfenstern Richtung Garten, angefüllt mit dunklen Möbeln zu halblangen, verblichenen Vorhängen, Samtveloursofa und Sesseln, bunten Wolldecken, Bildern und Skulpturen aus unterschiedlichen Schaffensperioden, strömt den Geschmack der sechziger/achtziger Jahre aus und ist längst unbewohnt. Das meiste blieb so, wie es zu Lebzeiten des Künstlers gewesen war. Für einen Moment glaube ich, in der Küche den Geruch von eingelagertem Boskop wahrzunehmen und im Atelier den von nassem Ton, Holz und Metall. Dann wieder raus in den Garten, die Treppe hinauf in den Turm, der ebenfalls lange Zeit als Atelier diente. Der Ausblick in die niederrheinische Landschaft reicht von leicht neblig über moosgrün bis hin zu pappelperlgrau.

Als Kind füllte ich nach dem Besuch des Taubenturms eine Zeit lang im Rechenheft jedes Kästchen, das nicht von einer Zahl belegt war, mit einem X aus. An den Seiten des X zog ich Wände ein. Oben ein Dach. Eine Wetterfahne.  

Ich höre nicht auf, ihn zu zeichnen, überziehe die Wände mit Schraffuren und Girlanden und werde dafür gerügt. Ich, eine Türmerin, schreibe mit meiner schwer zu bändigenden Schrift unerlaubt über die Linien und werde bestraft. Nachsitzen heißt das, eine Stunde, in der ich Wörter sammle, denn an ihrer Seite werde ich ruhig. Starrst du schon wieder Löcher in die Luft, heißt es im Unterricht, wenn ich, statt auf eine Frage zu antworten, nach den Pausen zwischen den angefangenen Sätzen greife, den unterbrochenen Sätzen, den halb ausgefüllten Sätzen, kaum hörbaren Sätzen. Wenn durch die Sätze Wildgänse fliegen, während ich Schulstunden mit Bleistift einkreise, mit ihm Himmel und Hölle hüpfe, auf einem Bein gleichzeitig drinnen und draußen, in der Klasse und auf dem Schulhof und immer die Treppe zum Turm hinauf.

Schreiben war Malen war Schreiben für mich.

Es gab andere Künstler, die den Taubenturm schon vor Alfred Sabisch als Atelier nutzten. Heinrich Nauen und Hermann Teuber. Sie kannten sich alle und tauschten sich aus bei Ada Neuhaus, einer Freundin meiner Großmutter. Ada öffnete ihr großes Haus am Kesseltor den Künsten und half den Großstadtmüden, wo sie konnte. Aber der Krieg holte sie trotzdem ein. Teuber, der in amerikanischer Gefangenschaft im Lager Chartres auf meinen Vater traf und ihn dort porträtierte, ging mit ihm nach der Entlassung aus der Haft zusammen zu Fuß nach Kalkar zurück. Mein Vater, 19 Jahre alt, vollständig ausgemergelt, aber nun im Besitz seines verletzlichen Gesichts, petrolfarben skizziert auf einem Stückchen Karton. Marie von Malachowski, Ehefrau von Heinrich Nauen und Malerin in seinem Schatten, hatte Jahre zuvor für meine Großmutter deren Tochter, die Schwester meines Vaters, als junges Mädchen mit straff gezurrten Zöpfen und eingefrorenem Lächeln gemalt.

Weitere Bilder von Künstlerinnen und Künstlern aus Kalkar sind auf unterschiedliche Weise in meinen Besitz gelangt und haben mich zum Teil bereits wieder verlassen. Der Taubenturm trat auf eigenartige Art und Weise jedes Mal neu in Beziehung dazu. Als Motiv oder Entstehungsort von Kunst im ländlichen Raum. Im Obergeschoss das Atelier, im Untergeschoss das Gefängnis. Im Zentrum des Gewölbes steht heute ein weiblicher Akt von Sabisch. Der Taubenturm markierte Entscheidungen. Für die Kunst. Für eine Lebensperspektive am Rand. Eine Enklave stadtauswärts, ein Offenbarungseid an das, was früher unter die Rubrik „anständiger Beruf“ fiel. Mal Freiraum, mal selbst auferlegte Klausur, aber nie Elfenbeinturm. Heute kümmert sich das Städtische Museum Kalkar im Auftrag der Erben um Haus und Turm.

Ein Refugium für Frauen war der Taubenturm jedoch – soweit ich weiß – nie.

Vita

Johanna Hansen, geboren 1955 in Kalkar, ist Autorin, Malerin und Herausgeberin der Literaturzeitschrift „Wortschau“. Sie arbeitete zunächst als Journalistin und Lehrerin, bevor sie sich 1991 der Kunst widmete. Neben zahlreichen Ausstellungen entstanden in Zusammenarbeit mit Musiker*innen, Komponist*innen und Videokünstler*innen Performances, Poesiefilme und spartenübergreifende literarische, musikalische und bildnerische Projekte. 2008 folgten erste literarische Veröffentlichungen, vor allem von Lyrik in Kombination mit eigenen Bildern. Ihre Gedichte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt, darunter ins Englische, Lettische, Spanische und in Hindi. 2019 erhielt sie den Lyrikpreis postpoetry.NRW. Johanna Hansen lebt in Düsseldorf.