Textstellen

Stadt, Land, Hund

Alfred Miersch über das Ankommen im Bergischen.

Zweieinhalb Jahre hatte Gustav seine Mutter in ihrem Haus versorgt, das letzte Jahr hatte er sie gepflegt. Doch im Frühling war es zu Ende gegangen, und nach ihrer Beerdigung war er endgültig für Mutters Hund Rudi verantwortlich. Und für das kleine Haus in dem kleinen Dorf bei Radevormwald.

Kurz nach dem Tod ihres Lebensgefährten war der Krebs in ihr entdeckt worden, danach hatte sie sich zurückgezogen und sich nur noch beiläufig um ihre Kräuterbeete und die Rosen und das Haus gekümmert.

Acht Jahre war das her und das allmähliche Ende seines Wanderlebens.

Zwanzig Jahre vorher war seine Frau nach einem Verkehrsunfall gestorben, und in seiner Trauer und Verzweiflung hatte er alles verkauft und war durch die Welt gereist, hatte in möblierten Wohnungen in verschiedenen deutschen Städten gelebt, als Aushilfe in Steuerberatungsbüros gearbeitet. Seine Habseligkeiten passten in einen Koffer, sein Handwerkszeug war der Laptop und seine Leidenschaft elektronische Musik und Elektrofestivals. Er hatte keine Bindungen und das Glück, allein sein zu können, ohne einsam zu sein. Wenn der Alltag zur Routine wurde, kündigte er und wechselte die Stadt. Er lebte in Rostock, als seine Mutter anrief und ihm von Gerds Herzinfarkt berichtete. Er lieh sich zum zweiten Mal in seinem Leben einen Leihwagen und fuhr nach Radevormwald.

Seine Mutter wirkte mutlos in dieser Zeit, ihre Trauer war tief und selbstzerstörisch und die Gespräche mit ihr ließen Gustav ratlos und deprimiert zurück. Dann kam der Krebs und nach vielen Telefonaten nahm er eine Arbeit in Wuppertal an und besuchte regelmäßig seine Mutter, versuchte, ihr Mut zu machen, ihr beizustehen. Er kümmerte sich um ihren Hund Rudi, wenn sie wegen der Medikamente nicht laufen konnte, und als sie nur noch mit Rollator oder Rollstuhl aus dem Haus konnte, hatte er seine möblierte Wohnung gekündigt, seinen Koffer und den Laptop gepackt und war zu ihr gezogen. Jeden Donnerstag fuhren sie nach Wermelskirchen ins Café Wild, weil ihr dort die Torten am besten schmeckten, einmal im Monat gingen sie ins Sinfoniekonzert nach Wuppertal, bis sie das Abo auslaufen ließ, weil sie es nicht mehr schaffte, lange zu sitzen. Mit der Zeit hatte sie ihre Verzweiflung überwunden und reagierte wieder mit rheinischer Gelassenheit auf das Schicksal. Sie freute sich mit stiller Heiterkeit über die kleinen Dinge des Lebens, die Waffeln in Feldmanns Hofcafé, den Besuch von Bauernmärkten im Bergischen, das Kaffeetrinken in den Altstädten von Lennep, Lüttringhausen oder Hückeswagen oder das Knistern und Leuchten des Holzes im Kamin. Inzwischen war er in Rente gegangen, übernahm die täglichen Spaziergänge mit Rudi und war überrascht, dass all die Kalendersprüche über die innige Beziehung von Hund und Mensch wahr zu sein schienen. Rudi vertraute ihm offenbar wirklich und er hatte eine fast väterliche und freundschaftliche Bindung zu ihm. Er nahm allerdings an, dass Rudi ihn nicht, wie ebenso oft in Hundegeschichten behauptet wird, besorgt bewachen würde, wenn er schwer gestürzt wäre, sondern fröhlich nach zwanzig Minuten von seinen Streiftouren zurückkehren würde, um zu sehen, warum er zurückgeblieben wäre. 

Gemeinsam wanderten sie durch das Unterholz an der Wuppertalsperre, Rudi liebte sowhl die bäuerliche Wiese im Wald unterhalb des Gemeindefriedhofes als auch den Wald über dem Ülfebad, aber besonders die Touren durch das unwegsame Gelände hinter der Feriensiedlung bei Krähwinkel. Er rannte dann los und stürzte sich in den überraschend entdeckten kleinen See im völlig überwucherten Gelände, das wirkte, als wäre hier noch nie jemand vorbeigekommen. Sie ruhten nach einer anstrengenden Kraxeltour auf den hohen Felsen an der Wuppersperre und beobachteten die Vögel, die Enten, die Taucher und Paddler, und Gustav bemerkte, dass er entspannt und gelassen, sogar zufrieden war wie lange nicht mehr in seinem Leben. Er genoss den weiten Blick über die Wiesen und Wälder, die im Dunst liegenden fernen Hänge des Sauerlandes. Manche Buchten der Bevertalsperre wirkten, als wäre er in Norwegen, und die bäuerlichen Tätigkeiten auf den Feldern im Wechsel der Jahreszeiten fühlten sich sinnhaft und wichtig an.

Seine Mutter starb in ihrem Bett, ihre Hand auf der seinen, und sie starb mit fast religiöser Klarheit, ohne Missgunst oder Enttäuschung, sie lächelte ihn an und und sagte sanft, dass sie glücklich sei, dass er nun endlich zu Hause wäre, und schloss die Augen.

Und nun stand er mit Rudi am Dorfausgang und schaute in die Ferne. Über die Wuppertalsperre ging der Blick Richtung Lennep, auf die Wiesen und die Hochhäuser am Hackenberg. Wildgänse waren vor ein paar Minuten über sie hinweggeflogen, vielleicht von der Wupper zur Bevertalsperre. Und plötzlich näherten sich Kraniche in ihren typischen Flugformationen, mit ihren lauten Schreien. Hunderte zogen über sie hinweg, sein Hund Rudi bellte, doch Gustav hielt den Blick nach oben und folgte den Vögeln, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Es war ein erhebender Anblick, ein tiefes Gefühl der Urprünglichkeit. Vor einem Jahr hatte ihn seine Mutter gerufen, damit er sie in ihrem Rollstuhl nach draußen bringen konnte, um die Kraniche zu beobachten, und nun sah er wie damals mit Mutter über die Hänge, die Wiesen, die Wälder und fühlte, dass sie in ihren letzten Minuten Wahres gesagt hatte. Dass seine lange Reise tatsächlich ein Ende gefunden zu haben schien. Es fühlte sich an, als hätte er endlich Ruhe und so etwas wie Heimat gefunden.

Vita

Alfred Miersch, geboren und aufgewachsen in Köln-Nippes, lebte in Berlin und lange Zeit in Wuppertal. Hier schrieb und veröffentlichte er Gedichte und Prosa, verlegte das Literturmagazin TJA und gab die Anthologie Omnibus heraus. 2000 gründete er den NordPark Verlag. Im Jahr 2022 zog er in ein Dorf bei Radevormwald und erkundet nun mit Hund die bergischen Städte, Dörfer und Landschaften. Er genießt die weiten Blicke, das Grün, die Seen, die bäuerliche Landwirtschaft, sein Hund bevorzugt die Wälder und das Unterholz, das Wasser, und beide lieben die Ruhepausen in Gaststätten, Landgasthöfen, Cafés und Altstädten des Bergischen Landes.