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Richter­skala '78

Sven-André Dreyer über den früheren Ratinger Hof und die Düsseldorfer Altstadt.

Pink Flag. Auch ich habe die rosafarbene Flagge gehisst. Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde im vergangenen Jahr in München mit dem Theodor-Heuss-Preis für sein entschlossenes Vorgehen während der Geiselnahme in Mogadischu geehrt und ich habe mir bei Rock On in der Innenstadt das Debutalbum von WIRE gegönnt. 21 Stücke in 35 Minuten und 37 Sekunden, das ist neu, das ist extrem, das ist, was sie Punk nennen. Das Album rotiert bei mir seit gut einem Jahr auf dem Plattenteller, Seite A, Seite B, 21 Stücke in 35 Minuten und 37 Sekunden und Vater kann nicht begreifen, warum ich mich so verändert habe. Krach nennt er das, Lärm, zum Durchdrehen! Und warum ich immerzu diese schwarze Lederjacke trage.

Dämmerlicht, Regenlicht, eine graue ungewaschene Stadt. Es ist weit nach fünf. Schon seit heute Mittag warte ich auf ihren Anruf, doch er kommt nicht. Dabei hatte ich bei Carmen für sie und für mich schon vor Wochen Karten ergattert und dafür tief in die Tasche gegriffen: zwei Tickets, als Bierdeckel gestaltet, echte Kunst von Imi, beide zusammen für 19,98 Mark, viel Kohle für jemanden, der keine Kohle hat. Und rotzspießig, sie auf ein Konzert einladen zu wollen, ich weiß. Trotzdem: Ist mir eine Herzensangelegenheit, gemeinsam mit ihr WIRE im Hof zu sehen. Die Jungs kommen aus London und werden ihr erstes Konzert im Ausland spielen. Aber nicht etwa in Berlin, nicht in Hamburg, die spielen bei uns, hier, auf der Ratinger, im Hof, ich flipp aus! Seit Wochen schon sprechen die Jungs und Mädchen in der Stadt von nichts anderem mehr, die Szene steht Kopf und ich will ihr unbedingt zeigen, wie viel Energie die Boys aus London haben. Superverbleit, vollgetankt bis oben hin. Die geben Vollgas, Überholspur, die Nadel ganz rechts. Nervöser Sound, total minimalistisch und saustraight.

Gestern habe ich mir die Haare geschnitten, und wenn ich die Jacke mit Pins trage, dann fühle ich mich das erste Mal in meinem Leben gut. Hab‘s heute Morgen ausprobiert: Die Leute wechseln die Straßenseite, wenn ich ihnen entgegenkomme. Einige bleiben sogar stehen, ich hab das aus dem Augenwinkel beobachtet, und glotzen mir nach. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich wahrgenommen, ich, der Unscheinbare, ich, der jetzt losmuss.

An der Haroldstraße biege ich links in die Poststraße, Carlstadt, Tor zur Altstadt. Ich atme tief am Spee’schen Graben, Enten gründeln, ich denk an meine nicht gemachten Bio-Hausaufgaben und scheiß drauf. Kein Lichthimmel, rasende Wolken und schon wieder beginnt es zu regnen; ich stelle den Kragen auf, das Kopfsteinpflaster glänzt glatt, schwarz, schön wie Samt. Und dennoch: vermintes Gebiet, vollgesoffene Konservative, und noch bin ich allein. Ich beginne zu Laufen. Über den Carlsplatz, durch die Mittelstraße und am Woolworth vorbei. Kapuzinergasse, Mertensgasse und Liefergasse, um endlich das Unruhige, das Eruptive der Ratinger Straße zu spüren.

Wohnzimmer Altstadt, für Leute wie mich eigentlich Sperrgebiet. Nicht geduldet, keinen Zutritt. An der längsten Theke der Welt sitzen meistens Spießer. Oder Rocker, die uns verprügeln wollen. Oder späte Hippies, die vom Frieden träumen, während die Bullen draußen Mitglieder der RAF suchen. Doch es gibt eine Ausnahme, einen echten Fluchtpunkt: Im Ratinger Hof wird der deutsche Punk erfunden, während eine Ecke weiter Jazz dudelt. Kreuzherreneck, alte Männer und Bier und die Lebensader Rhein nur ein Steinwurf entfernt. Und daneben, im Bagel, High Fashion, junge Männer und Champagner, dazwischen aufgetakelte Girls. Da hängen selbst die Jungs von Kraftwerk ab, die, die es schon im Ausland gepackt haben, die, deren Platten man mittlerweile bei Evertz kaufen kann. Sekt? Suspekt.

Endlich: Amtsgericht, und gegenüber eine Menschentraube vorm Hof, Düssel Alt obergärig, Export Edelkristall, und alle, wirklich alle sind da: Kurt und Frank, Jürgen und Ralf, Gabi und Robert, Bettina, Peter und Martina, nur sie kann ich nicht entdecken, und dabei habe ich doch ihre Karte. Ganz tief unten, in der Innentasche meiner Jacke, wartet sie auf ihre schöne Besitzerin. Carmen kontrolliert die Tickets am Eingang, ich gebe nur meines ab, deponiere für sie das andere am Tresen. Drinnen haben sie die Billardtische zusammengeschoben, die Bühne improvisiert. Alles im Aufbruch, alles ist möglich. Von hinten wird ungeduldig gedrängelt, geschubst, wir sind Sardinen in einer Dose, der Hof droht zu platzen und dann: Bühne entern, Verstärker an, das Quartett bläst uns die Rübe weg. Sturm, Schreie, Alarm. Alle Regler nach rechts, pure Freude. Unsere Gehörgänge werden nach Dreck durchwühlt, um ihn brutal auszuspülen. Weißes Neonlicht, rotes, gelbes, marternde Gehirnwäsche, völlig neue Sounds. Alles verschwimmt, verwischt, verschwindet: der Hof, die Ratinger, die graue, ungewaschene Stadt. Väter, Lehrer, die längste Theke der Welt – das hier ist 4000 Düsseldorf, das hier ist Altstadt, ein Stromschlag, der Aufbruch, reine Energie. Das hier ist Funke und Feuer und Asche und Rauch und ich weiß, dass ich hier richtig bin. Ich weiß, dass es jetzt, hier, heute keinen Ort auf dieser Erde gibt, an dem ich lieber wäre. Pogo tanzen, stürzen, aufhelfen, ein Schlüsselmoment, und Schweiß tropft rhythmisch von der Betondecke. Als ich mich umdrehe, sehe ich sie. Sie knutscht mit einem anderen und beide verlassen den Hof Arm in Arm in Richtung Regendüsternis. Das hier, da bin ich ganz sicher, das hier ist die beste Nacht meines Lebens.

Vita

Sven-André Dreyer, 1973 in Düsseldorf-Bilk geboren und aufgewachsen, mag das Rheinische an seiner kleinen großen Heimatstadt, das Unverstellte, das Unmittelbare. Es sind die Menschen, die ihn faszinieren, die typischen Rheinländer, ihre direkte Art. Und er mag das Radeln am Rhein, diesem uralten und doch täglich neuen Strom. Er liebt die Musik aus und in seiner Stadt und auch die Gegensätze, die sich in Düsseldorf – nicht zuletzt auch aus der Kunst speisend – täglich aufs Neue ergeben.