Textstellen

Obererft

Norbert Hummelt macht sich in seiner Erinnerung erneut auf zur Erft.

Die Sonntagnachmittage meiner Kindheit verbrachten wir in großer Regelmäßigkeit in der kleinen Wohnung meiner Großmutter, im Hochparterre der Schillerstraße 29. Meine Tante war dort für das Backen zuständig. Immer gab es Kirschtorte mit Sahne, und sie hörte nicht auf, mir zu schmecken. Da wir immer erst zwischen vier und fünf zum Kaffeetrinken eintrafen, dämmerte es oft schon, wenn ich danach mit meinem Vater zu einem Spaziergang aufbrach. Dieser führte meist in den Botanischen Garten an der Weingartstraße, dessen hohe Bäume wir aus der Küche meiner Großmutter jenseits der Mauer des Garagenhofs erblicken konnten und der mit seinen Volieren, dem Goldfischteich und den leicht geschwungenen Treppen mit ihren weiß gestrichenen Geländern ein unergründliches kleines Reich bildete. Wenn aber etwas mehr Zeit war, gingen wir zur Obererft. Wir erreichten sie hinter dem ehemaligen Finanzamt an der Weberstraße, über eine kleine Grünanlage, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht. Diese Obererft, ein schmaler Wasserlauf, der die Erft mit dem Neusser Hafen verbindet und an der wir stets in südlicher Richtung, auf Reuschenberg zu, entlanggingen, habe ich als ein fast stehendes Gewässer empfunden. Auch wusste ich als Kind noch nicht, dass im Erftkanal genannten letzten Abschnitt dieses Wasserwegs ein jüngerer Bruder meiner Großmutter, Vinzenz mit Namen, in den zwanziger Jahren bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam, ich frage mich auch, wie das zugehen konnte, dass er ertrank und dass man nicht darüber sprach. Auch an die Gespräche mit meinem Vater kann ich mich nach so langer Zeit nicht mehr erinnern, aber ich weiß, dass es sie gab und sie uns beiden wichtig waren. Wir gingen meistens bis zur Eisenbahnbrücke, unter der die Züge nach Köln fuhren, und dann noch ein Stück durch den Reuschenberger Busch, der an einigen Stellen uneben war, und mein Vater erzählte mir, dass es sich bei diesen Erdlöchern um Bombentrichter handelte. Wir kehrten dann wieder zur Schillerstraße zurück, weil mein Vater die Gespräche mit meinem Onkel nicht versäumen wollte, der immer erst am frühen Abend einkehrte; dabei ging es meist um Politik. Weiter bis nach Selikum gingen wir an der Obererft nur einmal im Jahr, Anfang September mit der Corneliuswallfahrt, die zu der kleinen, weiß gestrichenen Corneliuskapelle führte. Das greifbare Ziel dieser Wallfahrt waren die Apfeltaschen, die nach der Andacht vor der Kapelle gereicht wurden. Es gab aber noch einen weiteren Anlass, die Obererft zu besuchen. Dazu fuhren wir mit dem Auto bis in die Nähe des Wildgeheges und gingen an der Obererft bis zu der Stelle, wo sie von der Erft abzweigt und die ich, entgegen der wahren Fließrichtung, für ihre Mündung hielt. Dort rauschte ein Wehr und rauscht sicher noch heute, nur bin ich lange nicht mehr dagewesen. An dieser Stelle gibt es einen Gedenkstein mit einer Inschrift, die da lautet: Am 5. Oktober 1814 „ertrank hier der hochwohlgeborene Herr J. H. Arnold von Braumann zu Selikum, 43 Jahr alt und ledigen Standes. Er war der letzte seines Stammes, von jedermann geliebt und geschätzt wegen seiner Rechtschaffenheit und besondern Herzensgüte. Seine trostlose Mutter empfiehlt seine Seele dem frommen Andenken aller guten Kristen“. Dieser Stein machte mir in meiner Kindheit großen Eindruck, und einige der Formulierungen gingen mir lange nach und auch in Gedichte ein. Wenn ich mit meinem Vater dort hinfuhr, hieß es: „Wir gehen wieder zum Letzten seines Stammes.“ In zartem Alter träumte ich einmal, wie ich mit meinen Eltern an der Erft spazierte. Es war schlammig und ich rutschte aus und sank immer weiter dem Fluss entgegen. Ich versuchte zu rufen, aber es gelang nicht, meine Eltern gingen weiter und drehten sich nicht um. Von meiner Tante weiß ich, dass sie in den Nachkriegsjahren einmal damit drohte, in die Erft zu gehen, wenn man sie zwinge, einen Englischkurs zu besuchen; sie war bei Kriegsende zehn Jahre alt. Lange Zeit lebte ich in dem Gefühl, selbst der Letzte meines Stammes zu sein, weil ich jünger war als meine Schwestern und bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr kinderlos blieb, ja es fühlte sich so an, als hätte ich schon auf den Spaziergängen meiner Kindheit den eigenen Grabstein besucht. Mit meiner Tochter bin ich nie beim Letzten seines Stammes oder überhaupt an der Obererft gewesen, es ist weit von Berlin bis dorthin.

Vita

Norbert Hummelt, geboren 1962 in Neuss, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er ist Lyriker, Essayist und Übersetzer. Für sein literarisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Niederrheinischer Literaturpreis (2007), dem Hölty-Preis für Lyrik (2018) und dem Rainer-Malkowski-Preis (2021).