Textstellen

Nach der Befreiung des Auenlandes

Judith C. Vogt lässt einen Hobbit durch die absurd-schöne Landschaft an der Inde entlang spazieren und von Torte träumen.

In einem Loch im Boden könnte hier gut ein Hobbit leben – aber vielleicht gäbe es ihm auch zu wenig Infrastruktur und er würde Stolberg, Brand oder Eilendorf vorziehen und nur ab und zu einen Abstecher ins Auenland machen, zur Hunderunde sozusagen.

Er hätte vermutlich seinen sehr britischen Mini auf dem Schotterparkplatz geparkt, hätte mit einem mulmigen Gefühl festgestellt, dass immer noch Flutschäden zu sehen sind, vor allem da, wo das Flussbett enger wird und an die Straße angepasst. Aber spätestens hinter der Schranke hätte er aufgeatmet, überwältigt vom Gefühl einer guten alten Auenlandzeit, einer Zeit der Wälder und Felder und kleinen Flüsse.

Er lässt die beiden Hunde frei laufen – eigentlich soll man es ja nicht, aber dieses Gefühl der guten alten Zeit hat gemacht, dass es ihm unfair vorkommt, die beiden angeleint zu lassen. Und so springen Meriadoc und Peregrin über die Wiesen und den überwucherten Asphalt der Panzerstraßen. Es ist absurd schön, denkt der Hobbit, und direkt dahinter lauert der Gedanke: Wie kann etwas schön sein, das wir der Herrschaft des Bösen zu verdanken haben?

Absurd – und schön, dass es möglich ist, dass Blumen zwischen Drachenzähnen wachsen. Dass die Untiere des Militarismus mit gesenkten Kanonenrohren auf den Wiesen stehen wie verlorene Kälber. Eine Mauer ragt auf, einfach in der Landschaft: Meriadoc pinkelt daran, nicht ahnend, dass dort erst ein paar Belgier Handgranaten-Werfen geübt haben, dann ein paar Deutsche. Bergan – mühevoll auf kurzen Hobbit-Beinen, schon steht ihm der Sinn nach einem Stück Torte – gähnen Bunker, erschreckend lebendig, wie im Schlaf überwuchert.

Auf dem Rückweg spaziert er über ein kleines Wehr, betrachtet die Reste einer Betonbrücke, findet am Ufer eine vielverwurzelte Erle, die zu den Ent-Frauen gehören muss und sich nicht regt, mit sich selbst im Reinen. Mit dem Zustand hier, diesem Auenland, das in jedem schattigen Winkel, in jedem Dickicht und auch ganz offen den Militarismus eines ganzen Jahrhunderts zeigt. Hat dieses Auenland ihn hinter sich gelassen?, fragt sich der Hobbit, und etwas in ihm wird eng – aber nicht auf die gute Weise, wenn man das ersehnte Stück Torte gegessen hat.

Etwas in ihm fragt sich, ob Moos reicht und weidende Schafe, Graffiti und kletternde Kinder auf Panzerwracks, Spaziergänge und Hunderunden und alte Pappeln wie Wächterinnen. Er fühlt, dass nicht nur der Fluss zerstörerisch sein kann, aus dem Nichts die Zähne schlagen kann in dieses Gefühl von behaglicher Sicherheit.

In Gedanken schiebt er der Unruhe einen Riegel vor: „Hoffentlich nicht mehr in meiner Zeit.“ Das Land selbst antwortet mit einer Stimme wie ein grauer Bart: „Das denken alle, die solche Zeiten erleben. Aber es liegt nicht in ihrer Macht, das zu entscheiden. Du musst nur entscheiden, was du mit der Zeit anfangen willst, die dir gegeben ist.“

Ein Stück Torte, würde der Hobbit für heute entscheiden. Das muss es doch irgendwo in der Nähe geben.

Vita

Judith Vogt, geboren 1981 in Langenbroich, absolvierte nach dem Abitur eine Lehre als Buchhändlerin. Sie hat zahlreiche Romane veröffentlicht, einige davon zusammen mit ihrem Mann Christian Vogt. Für ihren Fantasy-Roman Die zerbrochene Puppe erhielten sie 2013 zusammen den Deutschen Phantastik Preis in der Kategorie „Bester deutschsprachiger Roman“. Außerdem schreibt sie Hörspiele, betreibt den Podcast Genderswapped und ist Mitherausgeberin des Magazins Queer*Welten. Judith Vogt wohnt in Aachen und ist gern mit dem Rad an der Inde und anderswo in der Euregio unterwegs.