Textstellen

Mit der Solar­rikscha ins Museum

Safeta Obhodjas macht sich auf zum Industriemuseum Solingen – mit zwei nicht ganz unbekannten Gefährten im Schlepptau.

Liebe Helene, endlich steht der längst versprochene Ausflug nach Solingen auf dem Programm. Warum gerade in so einem Fahrzeug? Weißt du, Benzin und Strom sind knapp und teuer, die Sonne aber scheint kostenlos, deshalb fahren wir in dieser Solarrikscha … Ich nehme dich, die erste promivierte Philosophin Deutschlands, als meine Geist-Begleiterin wieder mit. Wohin? Ganz hoch, zum Industriemuseum Solingen, ein bisschen Nostalgie wird uns gut tun … Warum willst du anhalten? Ach, was, du willst Friedrich Engels mitnehmen! Nein, Engels und seine Kameraden können mir gestohlen bleiben; ihr Marxismus hat der Welt nichts Gutes gebracht. Du meinst, er sei nett zu Frauen gewesen, besonders zu Marx‘ Frau Jenny ... Herr Genosse, steigen Sie ein, Helene will heute einen Mann dabeihaben. Ihr zuliebe lasse ich Sie, einen Textilfabrikanten, die Geschichte der Scherenschlägerei & Gesenkschmiede Hendrichs erzählen. Das habe ich gelernt, Helene, er hat sich für die Rechte aller Arbeiter eingesetzt.

Jetzt hören wir zu: „Die Brüder Peter und Friedrich Wilhelm Hendrichs haben 1896 in diesem Gebäude zuerst eine Scherenschlägerei gegründet; am Anfang stellten sie schön verzierte Scheren in vielen Formen und Größen her. Der Schornstein steht immer noch gerade wie bei der Einweihung ihrer Fabrik. Ein Dampfmotor verbrannte viel Kohle, um den Betrieb und besonders den Gesenkhammer in Gang zu halten. Im höllisch geheizten Ofen hat man die Stahlstücke zum Glühen gebracht, sodass die Handwerker sie in Stahlschneiderwaren wie Scheren und Besteck verwandeln konnten. Irgendwann wurde die alte Brennanlage beseitigt und durch einen Dieselmotor ersetzt, der immer noch funktioniert. Damals liefen ihre Geschäfte blendend, sodass die Brüder Hendrichs gleich unten eine Villa bauten, wo sie mit ihren Familien wohnten. Jahrhundertlang haben viele Arbeiter-Generationen hier geschuftet, ich frage mich, ob sie von ihrem Lohn ihre Familien ernähren konnten …“

Schon gut, Genosse Engels, schon gut, danke für Ihren Vortrag Es war einmal in guten, alten Zeiten ... Hier, ich habe euch zwei Kaffee to go in dem Café dort gekauft. Lassen Sie mich die Story beenden, ich bin immerhin ein Mensch der Gegenwart. Fast hundert Jahre später blieb von diesem Märchen des Kapitalismus kaum etwas übrig, die Schmiede konnte nicht mehr rentabel produzieren. Aber niemand wollte Maschinen, Geräte, Pressen, Werkzeug, Formen und so weiter verschrotten, man ließ sie an ihrem Platz und entschied sich, dieses Stück der Vergangenheit zu konservieren und die Schmiede in ein Industriemuseum umzuwandeln. Die ganze Anlage ist immer noch funktionsfähig, oft kommen Besucher vorbei; während sie die Maschinen und Geräte besichtigen, zeigen einige Handwerker ihnen, wie man früher hier geschmiedet hat … Gerade wurde der Motor angeschaltet, der Gesenkschmiedehammer knallt, wenn er zwei Teile der Schere zusammenschweißt … Helene, ich konnte nicht hören, was Herr Engels gesagt hat. Er fragte, ob es ein Textilmuseum in der Nähe gäbe, er würde es gerne besichtigen. Ja, in Ratingen steht eins, aber es reicht mir für heute. Meine Rikscha wird uns ein anderes Mal dorthin bringen. Versprochen!

Vita

Safeta Obhodjas, geboren 1951, wuchs in Bosnien und Herzegowina in der Nähe von Sarajevo auf. Ihre slawische Herkunft und ihre muslimischen Wurzeln brachten sie in ein doppeltes Dilemma der Zugehörigkeit, die sich in ihren ersten Werken widerspiegeln. Ende 1992 musste sie aus ihrer Heimat fliehen, um der von den serbischen Politikern gesteuerten „ethnischen Säuberung“ zu entgehen. Seither lebt sie in Wuppertal. In ihren Romanen, Hörspielen und Erzählungen schildert sie vorwiegend den Weg und das Erleben von Frauen. Ihre Werke sind in bosnischer und deutscher Sprache erschienen.