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Knappenberg

Ursula Maria Wartmann über den Besuch auf einer alten Oberhausener Halde, die Erinnerungen weckt.

Monte Schlacko sagt man zu ihm. Als sie ihn im vergangenen Oktober in Oberhausen besucht, liegt er da wie ein gestrandeter Wal. Der Knappenberg ist der Berg ihrer Kindheit. Als sie Anfang der 1960er dort zu spielen begann, schien er ihr wie ein schlafender Riese. Es gab Pfade nach oben und junge Birken und ruppige Sträucher. Wildkräuter hatten sich ausgesät, Moose gab es und sperriges Efeu, über das sie und die anderen stolperten, wenn sie sich in aller Eile voreinander versteckten. Von ihren Ersparnissen hatten sie sich Taschenlampen gekauft, in einem Kiosk an der Mülheimer Straße. Die konnte man auf grün und rot stellen und auf Blinklicht, mit dem sie sich vor Feinden warnten – der Bande aus der Straße am Friedhof, die den Monte Schlacko und auch die Henkelmannbrücke für sich haben wollte. Sie kämpften gegeneinander. Sie hatte aus dem Fundus eines Cousins, ein paar Jahre älter als sie, ein Fahrtenmesser bekommen. Es war sehr scharf und steckte in einer Scheide aus hartem, hellem Leder. Sie war stolz drauf und fühlte sich unbesiegbar. Benutzt hat sie es nie.

Schutt und Zementbrocken, Ziegel und Moniereisen waren nach dem Krieg auf den Monte Schlacko verfrachtet worden, dorthin, wo sie jetzt, im Spätherbst, auf gut einhundert Metern über Normalnull in der Oktobersonne stand. Sie hatte davon lange nichts gewusst, erst im vergangenen Jahr zufällig davon erfahren. Das also war der der Berg ihrer Kindertage: ein Schlacke-Abraum-Mix der Zeche Oberhausen und der Gutehoffnungshütte (GHH). Und eine Million Kubikmeter Schutt obendrauf – Trümmer von 10.000 Oberhausener Häusern, die während der Bombardements im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt worden waren. Noch gegen Ende des Kriegs trieb man ein Stollensystem ins innere Mark des Schlackebergs – einen Luftschutzbunker. Auch das hatte sie bisher nicht gewusst. Es gehörte zu dem ungeheuren, monströsen Schweigen der Nachkriegszeit, dass fast alles ungesagt blieb.

Einige aufragende Skulpturen, aus Eisen, aus Stahl, fand sie jetzt vor, Zeichen und Symbole aus Pflastersteinen waren am Berg installiert worden. Industriekultur. Rätselhaft kam sie ihr vor, archaisch. Von dem fünfzehn Meter hohen Aussichtsturm waren Gasometer und Neue Mitte zum Greifen nah. Ein später Schmetterling, ein Admiral, saß auf einem sonnenwarmen Stein. Sie bewunderte seine prägnante Zeichnung, die filigranen Flügel. Seine Unerschrockenheit, als sie die Hand neben ihn legte.

Sie kommt noch einmal zurück, da ist es November; der Tag ist kühl und regnerisch, der Himmel liegt grau wie ein Laken über der Stadt. Es ist kalt geworden, bald beginnt der Advent. Nicht weit von hier, unten in der Schillerstraße, entzündete ihr Vater Jahr für Jahr die erste Kerze am Adventskranz. Kurz vor dem Tod ihrer Großmutter, sie starb 1968, wurden eines Winters plötzlich riesige Mengen an duftenden Orangen in die alte Jugendstilvilla geliefert: „Aus Israel!“ wurde geraunt oder stolz verkündet, eine Sensation jedenfalls. Ihre Großmutter schälte sie mit ihrem Kartoffelmesser, das im Lauf der Jahrzehnte dünn wie eine Rasierklinge geworden war. Breitbeinig saß sie abends in ihrem Ohrensessel, das dunkle Kleid über den Knien, eine selbstgestrickte Decke aus hellem Garn; den Teller mit der Orange hatte sie in den Schoß gestellt. Heute lag sie zusammen mit den anderen im Familiengrab. Katholischer Friedhof, Marienfriedhof, nicht weit von hier. Auch der Name ihres so jung gestorbenen Sohnes war dort in Stein gemeißelt; Willi war im Krieg gefallen, in Russland.

Es hatte noch eine Klarinette von Onkel Willi gegeben. Halbherzig hatte sie damals versucht, sie zu spielen, hatte die Lippen nachdenklich um das Mundstück gelegt. Auf einem Foto – wer hatte es gemacht? – war Onkel Willi zu sehen, wie er in dem Wohnzimmer, in dem sie sich selbst später am Klavier versuchte, in einem schweren Sessel saß, eine Zigarette rauchend, sein rechtes Bein über der Lehne, und vergnügt in die Kamera lachte. Komplize. In dieses Gesicht hatte sie sich das erste Mal in ihrem Leben verliebt ... Da vorn, die zwei Türme der Marienkirche. Dort hatte sie genau wie ihr Onkel und die anderen die Erste Heilige Kommunion erhalten. Nachts hatte sie das Foto ans Herz gedrückt; sie hatte es heimlich aus dem Album genommen. Niemand hatte je wieder danach gefragt.

Als sie die Trümmer zum Berg schafften, war sie noch nicht auf der Welt. Sie schütteten den Berg mit Bauschutt und Bildern und zersplitterten Schränken und zerbeulten Töpfen und Steinbrocken und vielleicht auch den Kinderbüchern von jenen zu, die im Schützengraben die Stirn in die schwarze Erde drückten. Aus denen dann damals das Leben entwich – wie ein Hauch über den Wassern von Rhein und Ruhr.

Vita

Ursula Maria Wartmann, geboren 1953 in Oberhausen, wo sie bis zum Abitur lebte, hat nach langen Jahren in Essen, Aachen, Marburg und Hamburg in Dortmund die Zelte aufgeschlagen. Die Soziologin und Redakteurin wandert zwischen den Welten und Genres: zwischen Roman und Reportage, zwischen Essay, Erzählung und Lyrik. Sie wurde für ihr Werk mehrfach ausgezeichnet.