Textstellen

Kleine Autobahn­raststätten­poesie

Ulrike Anna Bleier schreibt über die Autobahnraststätte Ville in Hürth – und gleichzeitig über viele andere Raststätten.

Wer in allen Dingen Poesie erkennt, kann auch die Poesie von Autobahnraststätten erkennen. Ich gebe zu, sie ist nicht leicht zu fassen, diese Autobahnraststättenpoesie. Autobahnraststätten haben einen schlechten Ruf. Sie sind hässlich. Sie sind teuer. Sie sehen alle gleich aus und stehen für die Franchisisierung von Orten und Dienstleistungen. Die Autobahnraststätte Ville in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel sieht aus wie die Autobahnraststätte Am Hockenheim Ring in Baden-Württemberg. Ville Ost sieht aus wie Ville West. Am Hockenheim Ring West sieht aus wie Am Hockenheim Ring Ost. Die Raststätte Ostetal Nord in Niedersachsen sieht aus wie die Raststätte Ostetal Süd, aber auch wie Am Hockenheim Ring West oder Ville Ost. Das trägt nicht gerade dazu bei, dass Autobahnraststätten eines Tages als kulturelles Erbe auf der Liste der UNESCO stehen werden. Oder vielleicht doch?

Ich war siebzehn und auf dem Heimweg aus Südfrankreich. In Besançon hatte mich ein französischer Trucker mitgenommen, der bis Köln fuhr, und weil es schon Abend war, fuhr ich so weit mit, wie es ging. Es ging bis zur Autobahnraststätte Ville Ost bei Hürth. Wir kamen gegen zwei Uhr morgens an, ich stieg aus und suchte mir einen Schlafplatz. Hinter jeder Autobahnraststätte ist Gestrüpp und hinter diesem Gestrüpp kann man schlafen. Es war Sommer und es war warm, und es gab sehr viele Mücken in diesem Sommer an der Autobahnraststätte Ville Ost. Irgendwann stand ich wieder auf und ging durch die Dunkelheit zur Raststätte. 

Ein kleiner freundlicher Mann bediente mich und brachte mir einen Kaffee. Hinter der Theke stand ein zweiter Mann, der so etwa das Gegenteil des freundlichen Kellners war, ein Hüne, der hinter der Theke stand und in heiserem Tonfall Befehle ausspuckte. Ich war der einzige Gast, es war nicht viel zu tun. Doch wurde der freundliche Kellner nicht fürs Nichtstun bezahlt, sondern mit Putz- und Aufräum­arbei­ten beauftragt. Der andere, offenbar hatte er das Sagen, tat nichts, außer die Putz- und Aufräumarbeiten zu kontrollieren. An manchen Stellen musste der Kellner noch einmal putzen. Es war wie ein Kammerspiel, das die beiden vor mir aufführten. Selten habe ich mich einem fremden Menschen so nah gefühlt wie jenem Kellner in jener Nacht. Einmal verschwand der Chef, und gleich fragte mich der Kellner, ob ich noch einen Kaffee wolle; ich verneinte dankend, ich hatte kein Geld mehr. Er zwinkerte mir zu und schenkte mir trotzdem nach. Es war erst halb vier. Vor fünf würde es nicht hell sein und vorher würde ich auch nicht weitertrampen. Ich zog mein Tagebuch aus dem Rucksack und begann einen Text über die beiden Männer zu schreiben und wie ich da saß in der Autobahnraststätte vor meiner Tasse Kaffee, die mir der freundliche Kellner geschenkt hatte. Und eingeschenkt. Auch darüber schrieb ich, dass schenken und einschenken wie Mutter und Kind waren. Vielleicht hatte ich Sehnsucht nach zu Hause, vielleicht fiel mir deshalb dieser seltsame Vergleich ein. Der Chef tauchte noch einmal kurz auf und zischte etwas Böses. Mein Kellner zuckte mit den Achseln, und als der Chef wieder verschwunden war, begann er zu singen und zwinkerte mir noch einmal zu. 

Meinen ersten Text, der nicht von mir handelte, sondern von einem Ort, von diesem Ort, widmete ich ihm. Leider habe ich den Text nicht mehr, sonst würde er an dieser Stelle stehen. 

Übrigens fand diese Geschichte gar nicht an der Autobahnraststätte Ville Ost statt, sondern an der Autobahnraststätte Am Hockenheim Ring West. Sie hätte aber auch in Ostetal Nord stattfinden können. Oder in Aire de Besançon Champoux. Sie hätte überall stattfinden können und sie findet überall statt. Die einen kommandieren die anderen herum, die einen sind klein, die anderen groß, die einen singen, die anderen schreien. Wieder andere sitzen nur da und schreiben mit. Selbst wann man nichts tun kann, kann man immer noch Zeugin sein. Wenn eine nach Hause möchte, fallen ihr schiefe Bilder ein. Um fünf Uhr morgens geht die Sonne auf und die ersten Mückenstiche fangen an zu jucken. 

Vita

Ulrike Anna Bleier, geboren 1968 in Regensburg, wuchs in der Oberpfalz auf. Ihr einziger Fluchtweg aus der bayerischen Provinz waren die Autobahnen und Autobahnraststätten, die sie via Autostopp nach ganz Europa brachten. Heute lebt sie in Köln. Sie wurde u.a. mit dem Dieter-Wellershoff-Stipendium ausgezeichnet sowie mit Residenzen in Italien, Tschechien, Kanada und der Türkei. Ihr Roman Spukhafte Fernwirkung erzählt von biografischen Verschränkungen und den Orten des Dazwischen und wurde als eins von „Bayerns besten Independent Büchern“ ausgezeichnet. Wie bereits in vorherigen Texten experimentiert sie darin mit nicht-hierarchischen Erzählweisen, u.a. mit der App Die 4. Perspektive zum Weiterschreiben am Roman.