Textstellen

Kann ich alles sein?

Maren Gottschalk über das „Erholungshaus“, Leverkusens älteste Kultureinrichtung.

Hier lernte ich, dass ich alles sein konnte: ein Weihnachtswichtel oder ein saurer Drops, ein Sternchen, ein Diener, eine Oma oder eine Katze. Mit vier Jahren stand ich zum ersten Mal auf der Bühne des Erholungshauses und starb in einer stummen Rolle als Huhn in „Max und Moritz“. Ein Jahr später lispelte ich meinen ersten Satz als Sternchen von Anneliese, die mit ihrem Bruder Peterchen zum Mond geflogen war. 

Das Erholungshaus wurde mein zweites Zuhause, denn ich spielte bei jedem Weihnachtsmärchen mit, bis ich Abitur machte. Wir „Theaterkinder“ erkundeten das prächtige Haus im neobarocken Stil vom Dachboden bis zum Keller: verwinkelte Gänge, Garderoben mit altmodischen Spiegeltischen, in denen es nach Puder und Parfum roch, zahlreiche Probenräume voller Notenständer und seltsamer Hocker, Hintertreppen, die uns bis unter die Bühne zum Souffleuse-Kasten führten. Nirgends konnte man besser Verstecken oder Nachlaufen spielen als in diesem gigantischen Labyrinth. Geduckt huschten wir im leeren Zuschauerraum zwischen den Reihen hin und her, bis plötzlich ein Bühnenarbeiter vor uns stand. Dann rasten wir zurück ins Dunkel hinter der Bühne, retteten uns keuchend zwischen die schwarzen Vorhänge, Staub und Sägemehl in der Nase. 

Die andere Seite des Erholungshauses, das schicke Foyer mit Bar und Spiegeln, entdeckte ich erst mit dem Deutsch-Leistungskurs. Die Kulturabteilung von Bayer bot den Schulen günstige Abos und so pilgerten wir abends mit Mofa oder Bus ins Erholungshaus, um uns die Gastspiele aus Bochum, Essen oder Berlin anzuschauen. Wir gingen ins Theater, weil unsere Freunde es taten. Dann merkten wir, dass es uns berührte, aufwühlte und auf faszinierende Weise verunsicherte. Rauchend fachsimpelten wir in der Pause über Nathan den Weisen, über die Skandalaufführung von Die Räuber (Oh Gott, manche Schauspieler waren nackt!), über Sartre, Ionesco oder Sam Shepard. Kann es etwas Schöneres geben, als frisch verliebt Romeo und Julia zu sehen? Wenn uns etwas langweilte, ärgerte oder nervte, hielten wir auf unseren (meist hinteren) Plätzen aus, sonst konnten wir ja am nächsten Tag in Deutsch unsere gnadenlose Kritik nicht begründen. Nur wenn dringende Aussprachen anstanden, ließen wir nach dem Pausengong ausnahmsweise den zweiten Teil sausen und hockten uns auf die Treppe. 

Die Damen im Erholungshaus trugen elegante Kleider und Dauerwelle, die Herren Anzüge und Schlips. Wir standen in Wildlederboots und Jeans mit Blümchentüchern dazwischen, manche unserer Freunde kamen sogar im Parka. Wenn unsere Eltern auch in einer Veranstaltung waren, hielten wir Abstand, es sei denn, sie spendierten uns etwas zu trinken. 

Ich mochte dieses Haus sehr, in dem Kultur so hochgeschätzt wurde. Hier merkte ich zwar, dass ich dann doch nicht alles sein konnte. Dafür lernte ich die Sprache, in der Menschen von der Antike bis heute ihre Gefühle ausdrücken, ihre Trauer, ihre Liebe, ihren Hass, ihre Fragen und Zweifel. Und deshalb begann ich hier zu verstehen, wer ich bin.

Vita

Maren Gottschalk wurde in Leverkusen geboren. Sie studierte in München Geschichte und Politik und promovierte über Geschichtsschreibung. 1989 zog sie zurück nach Leverkusen und begann als Autorin für den WDR zu arbeiten, u.a. für die Radiosendung „ZeitZeichen“. Daneben verfasst sie Biografien und biografische Romane. Als Kind verbrachte Maren Gottschalk mehrere Nachmittage in der Woche im Bayer-Erholungshaus mit Theaterspielen und Ballettunterricht. Die Verbundenheit zu diesem Ort fühlt sie bis heute.