Textstellen

Hofgarten

Dominik Dombrowski über den Bonner Hofgarten.

Es gab eine Zeit, da lohnte sich für uns der Heimweg nicht. Wir blieben auf dem grünen Teppich, dem Bonner Hofgarten. Wir wohnten dort. Wir trugen stapelweise Lektüre aus der Leihbücherei und richteten uns auf der Wiese ein, an ihrem südlichen Ende beim Akademischen Kunstmuseum. Wir lasen dort unsere Orwells und Lovecrafts und Ginsbergs, und wir lasen dort einen herrenlosen Pudel auf und knüpften ihm eine lose Hundeleine aus gebatikten Tüchern. Wir überdachten ihn mit zusammengestellten Parkbänken und betteten uns darüber in verbundene Schlafsäcke. Wir wohnten dort, die Punks, die Obdachlosen und die Hippies. Nachts plauderten wir mit den Polizisten, die Tag für Tag ein Dutzend Mal unsere Ausweise kontrollierten, wegen der Demos und weil Bonn noch Hauptstadt war. Tagsüber kauften wir unser Bier am Imbiss von Frau Pawlov, die uns immer beschimpfte, während sie uns die Flaschen öffnete, weil wir zu viel trinken würden. An den Nachmittagen tauchte dann in der Regel der „Alle-mal-malen-Mann“ auf. Wie er eigentlich hieß, wusste keiner. Ich schätzte ihn um die sechzig, er schob sein Fahrrad über den Hofgarten, die Lenkerstange hing voll mit allen erdenklichen Malutensilien, dann parkte er irgendwo das Rad, beugte sich zu uns hinunter und fragte: „Soll ich euch alle mal malen?“ – „Klar!“ sagten wir, gaben ihm etwas Geld, oder ein Bier, er setzte sich zu uns ins Gras und zeichnete sehr reduzierte Bleistiftporträts: – alle hatten wir darauf denselben Ausdruck, dieselbe Frisur, nur manchmal, je nach Lust, fügte er den Strichmännchen ein paar spärliche Accessoires hinzu, eine Zigarette oder eine Brille. Im Grunde waren wir aber alle die gleichen Figuren mit seltsam verlorenen Gesichtern, manchmal alle auf einem Blatt verewigt, manchmal nur einer von uns. Seine zahlreichen Malutensilien benutzte er übrigens nie. Immer nur den einen Bleistift. Einmal, als ich nachts mit dem Pudel eine Runde um das Kunstmuseum drehte, schien der Mond in eines der Fenster, und ich erhaschte einen Blick auf die antiken Statuen dort drinnen. Und wie sie sich da so stumm und traurig im Mondlicht aufgereiht verloren, irgendwo ins Weltall starrend, beschlich mich ein ähnliches Gefühl wie bei den Bildern des Alle-mal-malen-Manns.

Als Bonner Student übernahm ich ein paar Jahre später die Mansarde eines Astronauten. Ernst Messerschmid hieß er, glaub ich. Sozusagen sesshaft geworden, hatte ich, Zigarette am Fenster, die Bäume winterlich entlaubt, freien Blick auf den Hofgarten, der jetzt trostlos und diesig vor mir lag, gesprenkelt mit ein paar joggenden Studenten. Wiederum dreißig Jahre später saß ich mit drei Freunden im Irish-Pub, da öffnete sich die Tür und – der Alle-mal-malen-Mann kam rein! Und – sah vollkommen unverändert aus, sein Fahrrad lehnte draußen an der Mauer und er fragte: „Soll ich euch alle mal malen?“, mit seinem Um-die-sechzig-Gesicht, und ich, verblüfft, antwortete: „Klar doch!“ Dann zeichnete er uns drei mit seinem Bleistift und ich erkannte mich auf der Stelle.

Vita

Dominik Dombrowski, 1964 in Waco (Texas, USA) geboren, lebt seit etwa vierzig Jahren wahlbeheimatet im südlichen Bonn. Neben der literarischen Arbeit erfreut er sich, zwischen dem Drachenfels und einem ruhenden Vulkan am Rodderberg wohnend, an reichhaltigen Spaziergängen.