Textstellen

Herbstlied

Bernhard Hennen über die magische Anziehung des Uerdinger Rheinufers, inbesondere in stürmischen Nächten.

Ich bin keiner der üblichen Spaziergänger. Es sind meist die stürmischen Nächte, die mich hinauslocken auf die Dammstraße am Rhein in Krefeld Uerdingen. Dort singen mir Stahl und Aluminium mein Herbstlied. Der Anleger der weißen Flotte schmückt sich mit Fahnen, deren Stahlseile im Wind gegen die Aluminiummasten schlagen. Das Banner mit dem Uerdinger Wappen ist zerfetzt. Das andere nicht. Keine Zeit, Zeichen zu sehen.

Ich schlendere unterhalb des Damms. Regen sticht wie Nadeln in mein Gesicht, während der Wind trübe Gedanken mit sich hinfortzerrt. Der Rhein steht hoch in diesem Dezember. Wellen lecken über das Pflaster, das zwischen bröckelndem Asphalt hervorbricht. Liebkosen rostende Schienen, halb versunken, einst wichtig, heute ins nirgendwo führend. Sich ein neues, höheres Ufer schaffend, findet der alte Strom fremde Töne. Auf dem Asphalt klingt der Wellenschlag wie Meeresbrandung.

Ich gehe vorbei am Rheintor, gesichert gegen die steigende Flut. Erreiche den gelben Kran, der vom Arbeiter zum Liebhaberstück wurde. Ungeliebt sind die ziegelbraunen Fabrikruinen, die wie der Schorf alter Wunden, die Lebensader der Region säumen.

Ich liebe den malerischen Verfall. Mich locken die aufgegebenen Gemäuer. Birken sprengen graue Fugen, Lost Places, versprechen Fotomotive, die tausendfache Klicks in der entrückten Welt neuer Medien verheißen. Ich widerstehe der Versuchung und schlendere vorüber, mit wachem Auge für alles, was einmal einen Platz in einer meiner Geschichten finden könnte. Ein merkwürdiges Stück Treibholz, Plastikfetzen, die das Geäst beflaggen, ein ausgefranztes Seil, ein blanker Knochen. 

Jenseits des Verfalls türmen sich tausend Lichter. Die Industrie ist weitergewandert. Knapp einen Kilometer entfernt, gibt der Chempark, auch in wolkenverhangenen Nächten, das Schauspiel eines auf das Ufer gesunkenen Sternenhimmels. Dunstschwaden zwischen Beton und Stahl gaukeln die Nebel ferner Galaxien vor, überstrahlt von künstlichen Sonnen. Es sind die Gegensätze, die meine Fantasie beflügeln. Verfall und Fortschritt. Der Fluss, der sich gegen das Bett auflehnt, in das er gezwungen wird.

Ich erinnere mich, wie der Rhein gerochen hat, als ich ein Kind war. Diesen Duft hat er abgelegt. Wenn das Wasser tief steht, finde ich am gegenüberliegenden Ufer an Sommertagen Krebse. Nun speit er wieder Leben aus und erfreut die Möwen mit reicherem Mahl.

Es ist ein kleines Stück Fluss, das mich immer wieder lockt. Wo der Fußweg auf die Rheinuferstraße trifft, kehre ich um. Den Blick nach Osten gewandt, wo im Dunkel das Stahlwerk liegt. Und wenn das Glück mir hold ist, gebiert er Glutschein in den nächtlichen Himmel. Man könnte sagen, dass sie dort drüben nur Schlacke abgießen. Das ist wahr und doch viel zu prosaisch. Seit zwei Jahrzehnten gehe ich hier spazieren und verharre jedes Mal im Schritt, wenn der Himmel in allen Rottönen erglüht und ihm Magie eingebrannt wird. Dann liegt, für ein paar Herzschläge, Tolkiens Moria greifbar nah, am anderen Rheinufer. Doch Zauber ist vergänglich. Und bald schon bin ich wieder allein mit dem Fluss, der maßlos neue Ufer setzt und in Hochwassernächten mit Wasserzungen wie Meeresbrandung flüstert.  

Vita

Bernhard Hennen, 1966 in Krefeld geboren, ist ausgebildeter Germanist, Archäologe und Historiker. 1993 verfasste er seinen ersten Roman, der im selben Jahr als bester deutscher Fantasyroman prämiert wurde. Seine Bücher sind in zehn Sprachen übersetzt, wurden mehr als fünf Millionen Mal verkauft und standen in Deutschland mehr als 100 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Bernhard Hennen lebt im Eckturm der alten Uerdinger Burg, keine hundert Meter vom Startpunkt seines Rheinspaziergangs entfernt.