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Freund­schaft

Gitta Edelmann über den Aufstieg zum Bonner Kreuzberg und einen guten alten Freund.

Sie atmet tief durch und macht sich an den Aufstieg. Es sind nur zehn Minuten von dieser Kreuzung in Bonn-Endenich hinauf zum Kreuzberg, aber der Weg ist steil. Sie ist froh, dass sie ihn noch gehen kann. Die meisten ihrer Freundinnen fahren inzwischen lieber mit dem Auto zum Parkplatz an der Kreuzbergkirche.

Der Weg ist das Ziel, das war immer schon ihr Motto. Sie lächelt und setzt gemächlich einen Fuß vor den anderen. Links zweigt der Weg zum Poppelsdorfer Friedhof ab. Gleich wird sie ihn wiedersehen.

Otto steht, wie immer, rechts am Weg und scheint schon auf sie zu warten.

„Hallo Otto“, sagt sie und wendet sich zu ihm, um ihn zu begrüßen. Vertraut umfassen ihn ihre Arme und sie lehnt sich an ihn.

Der junge Mann, der mit seinem Hund den Weg heruntertrabt, lächelt. „Tut gut, ne?“, ruft er.

Sie nickt und hält Otto noch ein wenig fester, drückt ihre Wange an seine tiefgefurchte Borke.

„Wie heißt der Baum da?“, hat ihre Enkelin einmal gefragt, als sie hier spazieren gingen.

„Otto“, hat sie spontan geantwortet. Erst viel später hat sie seinen wahren Namen herausgefunden: Populus alba. Er muss sehr alt sein, denn die Rinde junger Silberpappeln ist weißgrau und glatt, hat sie gelernt, während Otto tiefe Längsfurchen in seiner dunkelgrauen Borke zeigt. Er hat sozusagen Falten. Wie sie. Sie passen zueinander.

Sie besucht Otto regelmäßig. Nicht jeden Tag, aber doch so oft sie das Bedürfnis verspürt, und schöpft Kraft aus seiner aufrechten Stärke.

Andere steigen diesen Weg hinauf, um die weiße Barock-Kirche mit der Heiligen Stiege zu bewundern, oder die Aussicht bis zum Kölner Dom zu genießen. Hunde und ihre Menschen gehen spazieren oder joggen, Kinder spielen sommers wie winters auf der Wiese mit dem weiten Blick.

Sie besucht Otto.

„Mama, was macht die Frau da?“, fragt eine Kinderstimme.

„Sie umarmt den Baum“, hört sie die Mutter das Offensichtliche erklären.

„Ist das ihr Freund?“ Wie selbstverständlich Kinder die richtigen Schlüsse ziehen!

Sie lässt Otto los und dreht sich um.

„Ja, das ist mein Freund“, sagt sie. „Er heißt Otto. Möchtest du ihn begrüßen?“

Das Kind sieht unsicher zur Mutter hoch. Als diese nickt, kommt es angesprungen und drückt die kleine Hand an die raue Borke.

„Hallo Otto“, sagt es, lacht laut und rennt zurück zur Mutter.

„Hast du noch mehr Freunde? Kann ich die auch sehen?“

„Du kannst sogar eigene finden. Schau dich einfach am Wegrand oder im Wald um. Sie laufen nicht weg.“

Wieder lacht das Kind, dann zieht es die Mutter weiter den Weg hinauf.

Ein Weilchen später macht auch sie sich erneut an den Aufstieg, genießt die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach zwinkern.

Als sie oben ankommt, springt ihr das Kind entgegen.

„Komm, ich zeig dir meine neue Freundin!“

Kichernd führt es sie zu einer jungen Robinie, deren Stamm genau die richtige Dicke für ihre Ärmchen hat.

„Das ist Laila. Die will dich begrüßen!“

Sie atmet tief ein, legt ihre Hand an Lailas freundliche, grau-braune Borke und lächelt.

Vita

Nach längeren Auslandsaufenthalten in Brasilien und Schottland lebt und schreibt Gitta Edelmann seit vielen Jahren in Bonn. Gerne entdeckt sie auf ihren Streifzügen mit dem Rad oder zu Fuß auch heute noch Neues in der „kleinen Stadt‟ am Rhein. In ihren zahlreichen Romanen und Kurzgeschichten für Kinder und Erwachsene findet man Kriminelles, Historisches und Fantastik ebenso wie Romantik, meist mit einem Augenzwinkern. Besonders gerne kehrt die Autorin literarisch nach Schottland zurück wie in ihrer Cosy-Crime-Serie „MacTavish & Scott‟ oder macht eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert. Gitta Edelmann leitet auch Seminare für Kreatives Schreiben und ist in verschiedenen Autor*innenvereinigungen im In- und Ausland aktiv.