Die Kleinstadt in uns
Martin Becker über die Deutzer Freiheit.
Das Haus wurde in den Sechzigern erbaut und war mächtig schmuddelig, die Wohnung unterm Dach klein wie ein Schuhkarton (die kleinste Bleibe, in der ich jemals gelebt hatte), der schwere Aschenbecher auf dem Tisch der Hausverwaltung quoll über, was auch sonst? Ich wäre gleich wieder gegangen, in einer anderen Stadt, in einem anderen Viertel. Aber hier unterschrieb ich direkt den Mietvertrag. Ein kleiner Spaziergang reichte, um mir sicher zu sein: Hier war mein Platz. Deutzer Freiheit.
Dazu muss man wissen: Die Metropole meiner Kindheit hieß Lüdenscheid. Mit seinem für meinen damaligen Horizont immensen Shopping-Center und den sich schier endlos verästelnden Einkaufsstraßen der Innenstadt. Aufgewachsen bin ich in Plettenberg, wo ich als Jugendlicher im Schatten der Christuskirche durch die Fußgängerzone flanierte und mich in die weite Welt träumte. Man liebt ja immer, was man schon kennt: So ging es mir mit Deutz. Ich kehrte zurück. Mehr noch, weil es mein altes Daheim im Sauerland nicht mehr gab, fühlte es sich an, als käme ich nach Hause. Der kalte Geruch nach Zigarettenrauch. Alter Mittelreihenhausglanz, wohin man schaut. Die (Deutzer) Freiheit, die ich meine.
Jahre später laufe ich immer noch mit klopfendem Herzen durch mein Deutz, obwohl ich nicht mehr hier lebe, obwohl kein neuer Mietvertrag in verqualmten Hausverwaltungen auf mich wartet. Ich trinke auf der Deutzer Freiheit einen Kaffee. Überschwänglich grüße ich den Fischhändler in der Tempelstraße, den ich vom ersten Tag an ins Herz geschlossen hatte. Selten habe ich mir ein Fischbrötchen bei ihm geholt, und doch verbindet uns mehr, als er weiß: Als meine Mutter starb, war er der erste Mensch, der meine Tränen in den Augen sah, weil ich den Anruf meines Bruders direkt vor seinem Laden bekam. Die Zeit stand still an diesem warmen Sommermorgen.
Und das passt zu Deutz, dieser melancholischen Schönheit im hässlichen Nachkriegsstil, zu allem Übel auf der falschen Seite vom Fluss: Man bleibt entspannt, man überschlägt sich nicht, man macht kein Bohei. Man lebt, wie man lebt. Der Bettler vorm Supermarkt sitzt tagtäglich in derselben Haltung an seinem Platz und grüßt im immergleichen sonoren Tonfall, der obdachlose Mensch mit Stimmen im Kopf kritzelt vorm Bioladen seine erratischen Zeichnungen in sein Heft, die Kölschkneipen öffnen mit zuverlässiger Herzlichkeit und verbindlicher Unfreundlichkeit, die ganz alte Schule.
Wurde mir das alles mal zu eng, dann konnte Deutz aber noch viel mehr, dann war die große Welt nur einen Katzensprung entfernt: Stunde um Stunde habe ich am Rhein gesessen und die Deutzer Freiheit mit der Freiheit des Flusses getauscht. Die Schiffe hießen Volare oder Verone. Bepackt mit Kohle, mit Dünger, mit Containern. Langsam tuckerten sie dahin, nach Antwerpen, Basel, Rotterdam. Dita fuhr nach Krefeld. Chantal nach Gelsenkirchen. Und ich will nach Hause, wenn ich all das denke, was Deutz für mich ist. Dort, wo ich die Kleinstadt in uns finde und die Welt mir zu Füßen liegt.
Vita
Martin Becker, geboren 1982 in Plettenberg, schreibt Bücher und macht Radio. Zu hören ist er regelmäßig unter anderem im Deutschlandfunk und im Westdeutschen Rundfunk. Gemeinsam mit Tabea Soergel gewann er den deutsch-tschechischen Journalistenpreis. Er lebt mit seiner Familie in Köln und Halle/Saale.