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Der Elsabrunnen

Yvonne Struck erinnert sich in Kleve an eine alte Sage.

Ich lasse mich auf einen Stuhl des Eiscafés am Elsabrunnen sinken und strecke die Beine aus. Endlich Frühling! Die Sonne strahlt vom blauen Himmel, Menschen schlendern durch die Fußgängerzone, man hört deutsche und niederländische Wortfetzen. Eine alte Frau mit Rollator setzt behutsam einen Fuß vor den anderen. Ich streiche mir über den kugeligen Bauch und bekomme prompt einen Tritt von innen. Wenn ich zur Ruhe komme, wird das Baby in meinem Bauch munter. Ein Junge mit Laufrad kommt herangesaust und bremst am Elsabrunnen abrupt ab. Das Laufrad fällt zu Boden, schon sind die Hände im Wasser und plantschen, dass es nur so spritzt. Lächelnd bestelle ich bei der Kellnerin ein Mineralwasser und einen Früchtebecher.

Ein Mädchen im Krümelmonster-T-Shirt versucht, eine der Kinderfiguren des Brunnens zu erklimmen, gespannt beobachtet von einem weiteren kleinen Mädchen, das dabei völlig vergisst, an seiner tropfenden Eiskugel zu lecken.

Für diese Kinder ist der Elsabrunnen ein Spielplatz, dabei ist die Geschichte, die er darstellt, alles andere als fröhlich. Sie handelt von der Prinzessin Elsa, die vor langer Zeit am Flussufer des Kermisdahl saß, als der Ritter Lohengrin in einem Boot anlegte. Es kam, wie es in solchen Sagen immer kommt: Sie verliebten sich und wollten heiraten. Doch die Bedingung des Ritters war, dass Elsa niemals nach seiner Herkunft fragen durfte. Zwei Kinder und etliche Jahre später stellte sie die Frage dann doch, und so wurde ihr der Ehemann von einem Schwan entrissen. Genau diese Szene stellt der Brunnen dar: eine verzweifelte Ehefrau und zwei weinende Kinder, die versuchen, den Mann und Vater festzuhalten, der vom Schwan fortgerissen wird.

Die Geschichte ging mir sehr zu Herzen, als ich vor einigen Jahren nach Kleve zog und den Brunnen mit seiner Skulptur zum ersten Mal erblickte. Ich fragte mich: Hätte Lohengrin nicht einfach ehrlich zu Elsa sein können? Warum ist seine Herkunft überhaupt so wichtig? Wieso hat Elsa sich auf die Ungewissheit eingelassen? Nur um dann nach so vielen Jahren doch noch nachzufragen? Und vor allem: Inwiefern rechtfertigt das Ganze diese brutale Trennung? 

Nach mehreren Jahren in Kleve bin ich in dieser Hinsicht gelassener. Meistens gehe ich am Brunnen vorbei, ohne ihn richtig anzusehen. Wie es eben so ist, wenn Neues zu Bekanntem wird.

Das Mädchen hat es inzwischen geschafft, die Kinderfigur zu erklimmen, und strahlt über das ganze Gesicht. Und wie ich hier so sitze, den Kindern zusehe, mein Eis löffele und die Tritte des Babys spüre, merke ich, dass ich den Brunnen eigentlich doch sehr mag. Bestimmt wird mein Kind eines Tages auch auf die Figuren klettern. 

Die Frau mit dem Rollator ist jetzt auf meiner Höhe angekommen und grüßt die älteren Herren am Nebentisch. 

„Hallo!“ Plötzlich steht meine beste Freundin vor mir. Ich erhebe mich, um sie zu umarmen. 

„Schön, dass du da bist! Ich habe mir schon ein Eis bestellt.“ 

„So eins nehme ich auch!“ Wir strahlen uns an und sie setzt sich mir gegenüber.

Im echten Leben ist der Brunnen eben das Gegenteil der Sage, die er erzählt. Er ist Spielplatz und Treffpunkt, er führt die Menschen zusammen. Vielleicht ist die Geschichte von Elsa und Lohengrin ja auch einfach ein Zeichen für uns? Das Zeichen, ehrlich zueinander zu sein, uns so zu nehmen, wie wir sind, und die Zeit miteinander zu genießen.

Vita

Yvonne Struck, geboren und aufgewachsen in Lübeck, schrieb schon in der Grundschule die ersten Geschichten und Gedichte. Sie studierte zunächst Biologie und arbeitete nach dem Diplom in verschiedenen Berufen, bevor sie hauptberuflich Autorin wurde. Nach mehreren erfolgreichen Jugendbüchern erscheint im April 2024 ihr erster Roman für Erwachsene. Yvonne Struck lebt seit 2012 in Kleve am Niederrhein.