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Den Endstand bewachen

Arnold Küsters über das alte Bökelberg-Stadion.

Ein Plastikbecher rollt in engen Halbkreisen über die Stufen. Beim Sturz auf die nächste Sitzreihe macht er ein Geräusch. Da ist noch ein Becher. Und dort ist ein Becher. Von ihnen kommt das leichte, taumelnde Klackern, das vom Tribünendach zurückgeworfen wird. Auf der Westtribüne scheinen in dieser Nacht Zuschauer zu sitzen, die sich als weiße Plastikbecher getarnt haben. Auf den roten Sitzschalen. Im dünnen Licht der Notbeleuchtung ist auch im Oberrang nichts zu erkennen.

Ich stehe auf dem Rasen und weiß nicht weiter. Mutterseelenallein im Stadion. Angst vor der Grätsche. Der Bökelberg ist verwaist. Die letzten Besucher längst weg. Die Abschiedsparty vorbei. Die Bühne vor der Nordkurve leer bis auf ein paar Scheinwerfer. Um diese Zeit so nutzlos wie die Anzeigetafel. Aber deshalb bin ich hier: um zu bewachen. Damit nichts wegkommt. Ein Stadion für 34.000 und ungezählte Plastikbecher.

Am Bökelberg gibt es keine Begegnung mehr. Und doch: das ungläubige Raunen, das langsame Anschwellen der Begeisterung bis zur Entladung. Das zufällige Spiel des Windes mit den Bechern über Rechtsaußen ist der Abgesang. Beton, Wellenbrecher, die Lichtmasten – sie sind müde von so vielen Spielen.

In dieser Nacht bewache ich das Stadion. Bis am nächsten Morgen die Technikfirma kommt, um Bühne und Licht abzubauen. Das Ende des ersten und letzten Konzerts auf dem Rasen. Das geschäftsmäßige Ende von Schweiß, Euphorie, Siegestaumel, Hoffnung, Enttäuschung und Bier. Der Rasen wird noch eine Weile weiterwachsen.

Mich hält es nicht im Innenraum. Durch den Spielertunnel gehe ich hinaus zum Hof. Ich meine das Geräusch zu hören, mit dem Fußballschuhe auf Stein treffen. Aber es gibt keine Spieler mehr, Trainer, Offizielle und Günstlinge, die den engen Platz zwischen Stadion, Geschäftsstelle und Mannschaftstrakt bevölkern. Manager weiß auf den Asphalt gemalt. Im Büro brennt nicht mal mehr die Notbeleuchtung.

Im Spielerhaus rumpelt der Wind durch den Aufzugschacht. Schlägt da eine Tür im Kabinengang? Bereitet sich doch noch eine Elf auf 90 Minuten vor? Der Tabellenplatz gilt nicht mehr für das Bökelbergstadion. Der endgültige Abstieg wird mit Sprengstoff besiegelt. Keine Relegation.

Wie soll ich diese Nacht überstehen? In den Duschen tropft nicht mal mehr das Wasser. Eine ferne Ahnung von Lederfett, Schweiß und Gras. Das Entmüdungsbecken leer. Dunkelheit. Meine Angst, beim Blick um die Ecke einem früheren Gegner zu begegnen. Auf seinem Weg zur Ersatzbank.

In mir wächst die Angst vor dem Geisterspiel. Letzte Rettung: Mit dem Wagen rolle ich durch den Spielertunnel. Sicherer Transfer auf das Spielfeld. Ich weiß, der heilige Rasen verträgt das nicht. Im Mittelkreis wende ich. Stehe so, dass ich die Bühne und die Nordkurve im Blick habe. Im Radio läuft I put a spell on you. Ich werde wach bleiben. Sollen sie doch spielen. Mich tricksen sie nicht aus. Das 0:0 auf der Anzeigetafel bleibt.

Vita

Arnold Küsters, geboren 1954 in Breyell, lebt und arbeitet in Mönchengladbach, unter anderem mehr als 20 Jahre als freier Journalist für WDR/ARD, Hörfunk und Fernsehen. Sein erster Roman erschien 2005. Er ist bekennender Niederrheiner, liebt die Weite der Landschaft, die Kopfweiden, Seen und Flüsschen. Und er mag den besonderen Menschenschlag aus Gelassenheit und Sturheit. Sein Hang zum Krimi erklärt sich vielleicht dadurch, dass er in einer Metzgerei aufgewachsen ist und daher eine besondere Beziehung zu allem Vergänglichen hat.