Textstellen

Das Portal

Melanie Raabe erlebt in der Stadtbücherei Wiehl Fantastisches.

Die Straße, die durch den kleinen Ort im Oberbergischen führt, liegt ganz ruhig da. Es ist ein später Nachmittag im Herbst, es regnet, und es ist kalt. Das letzte Licht ist bereits geschwunden, die Straßenlaternen zeigen mir gelbes Laub unter meinen Stiefeln und die Fassaden gepflegter Fachwerkhäuser. Ich liebe den Teil der Wiehler Hauptstraße, an dem die Stadtbücherei liegt, und mir geht bereits das Herz auf, als ich nur das Schild an der Fassade sehe. Das hier ist mein Bahnsteig 9¾, mein Portal in eine andere Welt – ach was, in Abertausende andere Welten. Ich trete durch die Tür und bin auf der Stelle wieder elf Jahre alt. Viele Dinge geschehen gleichzeitig in diesem Moment. Mein Körper wird kleiner, ich schrumpfe um einen guten Kopf, werde leichter und schmaler, meine Haare kürzer und lockiger, keine Spur mehr von den verspannten Nackenmuskeln, die mich Schreibtischwesen seit Jahrzehnten plagen. Andere Dinge wachsen: meine Fantasie, meine Begeisterungsfähigkeit, meine Neugier. Ich bin elf Jahre alt, und ich bin entschlossen, jedes einzelne Buch in dieser Bibliothek zu lesen, eines nach dem anderen. Ich grüße, als ich an den beiden Mitarbeiterinnen im Eingangsbereich vorbeikomme, sie grüßen lächelnd zurück, obwohl sie bald zumachen werden. Sie kennen mich gut, schließlich bin ich ständig hier.

Leichten Schrittes trete ich ein in das Labyrinth aus Bücherregalen, vernehme des vertraute Wispern. Ich streife durchs Untergeschoss, hier finden sich Erwachsenenbücher, Sachbücher, Romane aus aller Welt, von denen ich viele bereits kenne. Niemand außer mir und den freundlichen Bibliothekarinnen ist hier. Ich gehe eine Bücherreihe entlang, sicher fünf Minuten lang, die ein Dutzend Meter in die Höhe wächst. Mal um Mal wundere ich mich darüber, wie es sein kann, dass die Stadtbücherei, die von innen so groß ist wie ein Dorf, in ein kleines Fachwerkhaus passt. Dann halte ich inne. Vor mir ist ein Schatten aufgetaucht, den ich nur zu gut kenne. Mein Mund ist mit einem Mal sehr trocken, mein Herz rast. Die Gestalt tritt aus den Schatten vor mir heraus ins Licht, und ich kann ihr böse grinsendes Clownsgesicht erkennen. Pennywise, das mörderische Monster aus Stephen Kings Roman Es, den ich viel zu früh las. Ein Messer in der Hand kommt es auf mich zu. Ich renne den Gang zurück, mit wild pumpendem Herzen, renne, renne, komme an einer Abbiegung vorbei, halte kurz inne, unsicher, in welche Richtung ich mich wenden soll. Und stoße einen erstickten Schrei aus, als mich jemand packt und in den Gang zu meiner Linken zieht. Ich atme erleichtert aus, als ich den Jungen vor mir erkenne, denn nun weiß ich, dass ich in Sicherheit bin: Es ist Atréju. Er lächelt, und wir unterhalten uns ein wenig, schlendern gemeinsam durch die Gänge, ehe er sich wieder auf den Weg macht, Heldendinge zu tun, während ich mich noch ein wenig umsehe, wobei ich die Abteilung mit Horror-Romanen sorgsam meide. Ich hebe grüßend die Hand, als ich an Jane Eyre vorbeikomme und an den Kindern aus Heike und Wolfgang Hohlbeins Märchenmond. Ich sehe auf meine Uhr. Die Bücherei wird bald schließen, ich sollte mich beeilen. Impulsiv greife ich nach einem Buch, das besonders verführerisch wispert, und trage es zur Ausleihe. Im Grunde ist es nicht wichtig, wofür ich mich heute entscheide. Ich bin elf Jahre alt, und ich werde jedes einzelne Werk in dieser magischen Kathedrale der Bücher lesen, die in einem schönen Fachwerkhaus im oberbergischen Wiehl verborgen ist.

Als ich wieder durch das Portal trete und mich auf der Straße wiederfinde, sind mein erwachsener Körper und sogar meine Nackenschmerzen zurück, aber das Buch ist noch in meiner Hand, und als ich es in meine Tasche gleiten lasse, um es vor dem oberbergischen Nieselregen zu schützen, muss ich lächeln.

Vita

Melanie Raabe wurde in Jena geboren und ist in einem thüringischen Dorf und im oberbergischen Wiehl aufgewachsen. Sie studierte Komparatistik und Medienwissenschaft in Bochum und lebt seit fast zwanzig Jahren in Köln. 2015 erschien ihr Debütroman Die Fall, vier weitere Romane folgten, zuletzt Die Kunst des Verschwindens, dazu ein Sachbuch über Kreativität. Melanie Raabe schätzt alle Bibliotheken, aber ihr Herz gehört der Stadtbücherei in Wiehl.