Textstellen

Das Freundschafts­haus

Christoph Peters über die Ruine eines Melkhauses gegenüber des ehemaligen Kernkraftwerks Kalkar.

Ich bin von weit her gekommen, sechshundert Kilometer mit verschiedenen Verkehrsmitteln, das letzte Stück zu Fuß. Die niederrheinische Landschaft liegt unter Schnee, ein seltener Anblick. In meinem Rücken ragen Gebäude auf, die vom vormals modernsten Kernkraftwerk der Industrienation Deutschland, SNR-300, genannt „der Schnelle Brüter“, übrig geblieben sind. Vor mir, in den Wiesen, und nur über einen überwucherten Feldweg erreichbar, muss sich das flache Gebäude befinden, das über Jahrzehnte, als die Kühe noch unter dem weiten Himmel liefen, ein Melkstall war. Ich weiß, dass er hier steht, entdecke ihn jedoch erst hinter Hecken, Büschen, Sträuchern, als ich wenige Meter davorstehe. Teile der Außenmauern sind durchbrochen, eingerissen.

Vor vierzig Jahren war ich oft hier, nicht wegen der Kühe, sondern weil der berühmte Bauer Maas, dem der Stall gehörte, ihn an eine Gruppe junger Leute verpachtet hatte. Sie versuchten, auf dem Gelände eine Landkommune aufzubauen, die sich autark mit Lebensmitteln und Energie versorgte. Vor allem organisierten sie von hier aus den Widerstand gegen den Bau des Kraftwerks, bereiteten Demonstrationen vor, informierten die Bevölkerung über die Katastrophe, die der Region, dem Land, der Welt drohte, sollte es im Reaktor zu einem Unfall, einer Kernschmelze, einer Explosion kommen.

Ich trete durch die offene Mauer ein, weiß nicht, ob es erlaubt oder verboten ist. Vor mir liegen einige der riesigen, in durchsichtige Plastikfolie gerollten Strohballen, als wären sie vergessen worden. Daneben steht ein alter Schultisch, Stahlrohr, eine fahlgrüne Resopalplatte, leere Schubladenfächer. Vor langer Zeit, ehe alles zu Ende ging, hat hier vielleicht jemand Aufzeichnungen gemacht, für die Nachwelt – sich selbst. Durch einen leeren Türrahmen betrete ich den vorderen Raum. Das alte rote Sofa, auf dem ich oft gesessen habe, steht vor herausgebrochenen Fenstern. Teile der Polsterung sind aufgerissen, Füllmaterial quillt heraus, Stücke einer zertrümmerten Rigipsplatte sind über die Sitzfläche verteilt, ein riesiger Käfig, vielleicht Teil des Hühnerstalls, ist auf die rechte Lehne gekippt. Die meisten der Dämmplatten unter dem Wellblechdach fehlen. Zerfledderte Fliesfetzen hängen von der Decke, wie die Jagdbeute eines Fallenstellers: Waschbär, Marder, Silberfuchs, Dachs. Auf dem über und über mit Schutt bedeckten Boden mischen sich Felle, die niemals verwesen, mit Schindelscherben, Spanplattenbruch, Buchseiten, rostigem Blech, leeren Dosen, Flaschen, Schachteln, Laub. Ein Herd, ein umgestoßener Kühlschrank, der Rahmen einer Kommode, zertrümmerte Möbel stehen wahllos herum. Wo das Dach fehlt, ist die Rückwand in sanften Grüntönen vermoost. Viel Zeit ist vergangen, seit ich zuletzt hier war – sehr viel Zeit. Die Zeit steht still, krümmt sich, ändert die Richtung. Damals, vor vierzig Jahren, wurde hier gegen den Wahn vom ewigen Fortschritt an eine andere Art Zukunft geglaubt. Sie ist nicht eingetreten. Aber noch immer gilt, was damals galt: Man muss etwas tun, selbst nachdem es zu spät ist.

Vita

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar am Niederrhein geboren. Von 1977 bis 1986 besuchte er das katholische Internat Collegium Augustinianum Gaesdonck bei Goch, wo der Kunstsammler Franz-Josoph van der Grinten sein Lehrer war. Von 1988 bis 1994 studierte er Malerei an der Kunstakademie Karlsruhe bei H.E. Kalinowski und G. Neusel, zuletzt als Meisterschüler von Meuser. Seit 2000 lebt er als Schriftsteller und Zeichner in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er den „Dorfroman“ (2020), in dem er davon erzählt, was die Ereignisse rund um den Bau des Schnellen Brüters in Kalkar mit seinem Dorf, seiner Familie und ihm selbst zu tun hatten.