Textstellen

Bundeskanzler

Jochen Rausch über Willy Brandts Auftritt in der Wuppertaler Stadthalle.

 Als junges Mädchen wollte ich Zeitungsreporterin werden. Ich dachte, dann wäre es gut, für die Schülerzeitung zu schreiben. Und dann hieß es gleich in der ersten Redaktionssitzung, der Bundeskanzler kommt nach Wuppertal, und ich könnte doch eine Reportage schreiben. Ich kannte den Bundeskanzler nur aus dem Fernsehen und von einem Foto, auf dem er Gitarre spielte und im Mundwinkel eine Zigarette hielt. Heute würde man sagen, das sei cool, aber Anfang der 1970er Jahre benutzte niemand dieses Wort. Der Kanzler hieß Willy Brandt. Mein Vater hielt nichts von dem, er war selbständig, wählte CDU und nannte den Kanzler „Willy Weinbrand“. Aber immerhin hat mein Vater mir seinen Fotoapparat geliehen, da war ihm die Karriere seiner Tochter doch wichtiger als die Politik. 

Der Kanzler wurde in einer eleganten schwarzen Limousine an unserer schönen Stadthalle vorgefahren. Die Stadthalle wurde 1896 gebaut. Ich dachte immer, sie sei noch viel älter, sie ist ja im Stil der italienischen Neorenaissance. Gleich nebenan ist die Schwimmoper, auf die wir Wuppertaler auch sehr stolz sind. Ganz viel Glas, das Gebäude scheint irgendwie auf dem Kopf zu stehen. Vielleicht ist es das einzige Schwimmbad auf der ganzen Welt, das aussieht wie ein Opernhaus. 

Vor dem Wagen des Kanzlers fuhr eine Eskorte von Motorradpolizisten in weißen Lederjacken. Über unseren Köpfen knatterte ein Polizeihubschrauber, man musste ja auch mit Terroristen rechnen.

Der Kanzler stieg aus und es wurde ganz still, bis auf den Hubschrauber. Er trug einen dunklen Anzug, weißes Hemd, schmale schwarze Krawatte, als müsste er später noch auf eine Beerdigung. Ach was, er sah aus wie ein Hollywood-Schauspieler. Er bewunderte unsere Schwimmoper und die Stadthalle, vielleicht dachte er, die ganze Stadt hätte so beeindruckende Gebäude, aber das stimmte natürlich nicht, Wuppertal war ja furchtbar bombardiert worden, sogar die Schwebebahn hatte im Fluss gelegen. 

Der Kanzler rauchte eine Zigarette. Der Rauch kam ganz vornehm aus seinem Mund, wie aus einem Strohhalm. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat. Ich war siebzehn und bekam einen ganz trockenen Mund. Vor lauter Aufregung vergaß ich das Fotografieren. Aber ich rief dem Kanzler eine Frage zu: „Wie gefällt es ihnen bei uns im Tal, Herr Bundeskanzler?“

Der Kanzler hat sich zu mir gedreht, so ganz langsam, wie im Film eben, und wahrscheinlich bin ich knallrot geworden, dann hat er gesagt: „Ein hübsches Städtchen haben Sie hier, junges Fräulein“.

Ich habe später in meinen Artikel geschrieben, der Bundeskanzler hätte mir ein exklusives Interview gegeben. Das kürzeste Interview aller Zeiten. Ich habe sogar noch dasjunge Fräulein“ weggelassen, das hörte sich an, als hätte der Kanzler mich nicht ganz ernst genommen.

Willy Brandt wurde dann in die Stadthalle geführt und der ganze Tross aus Reportern, Fotografen und Polizisten hinterher. Bevor er zur Bühne ging, musste er zur Toilette, und wir warteten vor der Tür. Die Klofrau ließ sonst keinen mehr in die Waschräume. Und dann kam der Kanzler heraus und lächelte und steckte der Klofrau fünf Mark zu.

Der Saal war rappelvoll, hauptsächlich Männer und viele Kriegsversehrte, viele hatten nur einen Arm oder Augenklappen oder saßen in Rollstühlen und trugen dunkle Geschichten auf den Gesichtern. Der Kanzler hatte eine tiefe, knarzende Stimme. Die ging einem durch und durch. Mit der Stimme hätte er auch Schauspieler werden können oder Chanson-Sänger. Der Kanzler sprach über den Krieg. Meine Eltern sprachen nie über den Krieg und unsere Nachbarn auch nicht, obwohl sie ihn doch erlebt hatten. Ich begriff damals, dass Krieg das Schlimmste von allem ist. 

Zum Schluss rief der Kanzler, es dürfte nie wieder Krieg geben, und dabei schlug er mit der Faust aufs Rednerpult. Alle riefen „Nie wieder“ und dann wurde die Internationale angestimmt. Viele fingen an zu weinen und mir kamen auch die Tränen. Als ich nach Hause kam, schwärmte ich von Willy Brandt, und mein Vater sagte, dann sollte ich doch nach „Drüben“ gehen, und ich musste noch mal weinen. 

Der Chefredakteur der Schülerzeitung sagte, ich hätte ja wohl eher einen Liebesbrief geschrieben als eine Reportage. Später erfuhr ich, dass er in der Jungen Union war. Wer weiß, hätte er den Artikel gebracht, wäre ich vielleicht wirklich Reporterin geworden. So wurde ich Lehrerin, das war auch schön. Von Willy Brandt habe ich gelernt, dass ich in die Herzen der Kinder muss, wenn ich ihren Verstand erreichen will. Und dass es nie wieder Krieg geben darf.

Vita

Jochen Rausch, geboren 1956 in Wuppertal, ist Autor, Journalist und Musiker. Er veröffentlichte Romane und Erzählungen und schrieb Hörspiele und Essays. Sein Buch „Krieg“ wurde unter dem Titel „Fremder Feind“ für die ARD verfilmt. Außerdem ist er Gründer des Elektronik-Duos Stahlnetz, das 1982 mit dem legendären Produzenten Conny Plank einen Top-20-Hit produzierte („Vor all den Jahren“). Rausch war bis 2022 für den WDR in Köln tätig, baute den Radiosender 1Live auf und war zuletzt Programmchef von 1Live, WDR2 und WDR4 sowie stellvertretender Programmdirektor. 2015 wurde er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet.