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Blanka Beirut und die Zungen­mosaike

Andrea Karimé denkt auf dem Ebertplatz in Köln an vieles, aber nicht an einen Sozialdemokraten.

„Lass die Dinge liegen / leg die Worte dazu / aber lass die Dinge liegen“ Inger Christensen

Blanka Beirut spaziert nach Jahrzehnten das erste Mal wieder über den Ebertplatz und denkt nicht an einen Sozialdemokraten. Wie auch, wenn sie hässliche Schlünde namens Unterführung anstarren. Wenn der Beton unter Blankas Schuhen Vergangenes flüstert. Auf der Treppe bietet ihr jemand etwas Namenloses, in einer Hosentasche Raschelndes zum Verkauf an. Blanka winkt ab. Sie erinnert: ein wahnsinniges Herz, einen Nachtfall, eine Heimatlosigkeit. Gesterngeister erheben sich vom Beton in ihren Kopf und nehmen Blankas Gedanken in die kalten Hände. Ein Geist nach dem nächsten stellt sich auf dem Platz auf. Sie verdecken die neue Kunst, das Containercafé, die Rollschrank-Überraschung. Blanka Beirut holt ein Wort aus der Handtasche und legt es auf eine der Betonplatten. Kanadagans. Da kommen die halsgestreiften Vögel schon, bringen frischen Wind und nehmen den Platz in Besitz, da wo früher Stockenten wohnten und ein großes Dampferlächeln sie auf- (und davon) nahm.

Da wo noch immer ein Zungenmosaik die Luft dekoriert. Und in Ohren Platz nimmt.

Als Blanka vor Jahrzehnten an den Ebertplatz zog, von der grünsten Stadt Deutschlands, hatte sie auch nicht an einen Sozialdemokraten gedacht. Blanka hatte geheult, in ihre Handtasche hinein, wegen der Betonweiten und der kranken Tauben und der Drogendealer.

Sie versuchte ein Ebert-Plätzchen, also Keks, aus dem Sozialdemokratengelände zu machen. Einen Heimatleinkeks. Es gelang nicht.

Vielleicht ist sie deshalb mit dem erstbesten Dampferlächeln aus der Nachbarschaft fortgeschwommen. Das zu einem gehörte, den sie „gestreifter Nachbar“ nannte. Was nichts mit den Kanadagänsen zu tun hatte, die es damals ja noch nicht gab.

Blanka geht zwischen den Gesterngeistern durch, setzt sich und bestellt sich ein schweigendes Wasser. Denn das geht jetzt in dem neuen Containercafé, das in einer Farbe wie Kondensmilch gemischt mit grüner Götterspeise angestrichen war. Ihre Gedanken überraschen sie, wie der Büro-Rollschrank, aus dem kräftiger Bambus sprießt, vor dem Cafécontainer.

Ein unsichtbares Mosaik überzieht den Tag, der keine starke Schulter ist.

Auch damals, als sie den gestreiften Nachbarn traf, gab es schon das Zungenmosaik. Blanka Beirut sammelte Steinchen in ihrer Ohrentasche. Türkisch, Arabisch, Kroatisch, Russisch, Polnisch und Kurmancî. Vielleicht war das das Beste, und das, was letztlich doch Heimatlein wurde.

Nicht das dampferweiße Lächeln, das sie nach einem Konzert in der Musikhochschule ansprach. Im gestreiften Anzug. Damals trugen die Betonplatten noch keine Erinnerungen. Sie waren nur Spiegel für Heimweh. Und sie waren das, was Heimatlein werden musste.

Blanka hört Albanisch. Und Ukrainisch.

Das dampferweiße Lächeln hatte sie auf und dann davongenommen. Sie wurde ein Teil seiner am Ebertplatz gelegenen Geschichte. „Nachtfall“ hieß die Geschichte. Und „Männliches Bein mit Nylonstrümpfen“. Blanka Beirut wurde zur Hauptfigur einer „Russische-Prinzessin-Erzählung“. Am Teich. Der jetzt den Kanadagänsen gehört.

Es war auch am Ebertplatz, wo Blanka Beirut kurze Zeit später versucht hatte, jenen Mann, der sie zu seiner Erzählung gemacht hat, telefonisch zu erreichen. Am Teich, der nur bei Wolkenblau schön ist oder bei einem wie heute gefiederten Himmel. Blanka hatte auf einer Bank gesessen, und sie hörte, wie der Telefonhörer sagte: Er kann jetzt nicht sprechen. Später erfuhr Blanka, dass sie in jenem Augenblick auf der Bank am Teich betrogen worden war. Dass eine andere – vermutlich unrussische – Erzählung in seinem Zimmer mit Flügel und Gesamtausgaben unter ihm gelegen hatte.

Verstanden hatte Blanka Beirut nichts in jenem Augenblick. Es übernahm eine Verwirrung in ihrem Kopf die Führung und stellte dort Gedanken um, wie Möbel in einer Wohnung. Gedanke für Gedanke plötzlich in einer seltsamen Sprache verschlüsselt.

Ein Gedanke ist kein Ding, denkt Blanka. Sie wartet bei schweigendem Wasser mit Zungenmosaik in den Ohren. Niemals wird sie hier an einen Sozialdemokraten denken, niemals wird der Ebertplatz ein Plätzchen, geschweige denn ein Keks. Blanka schließt ihre Handtasche und ihre Augen, steht auf und legt, bevor sie weitergeht, das letzte: Wort.

Vita

Andrea Karimé ist in Kassel geboren und mit dem Klang vieler Sprachen im Ohr aufgewachsen. Nach dem Studium der Musik- und Kunsterziehung arbeitete sie zwölf Jahre als Grundschullehrerin. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin und Geschichtenerzählerin in Köln. Für ihr Werk, Romane, Erzählungen, Kinderbücher, Gedichte, Kolumnen erhielt sie viele Stipendien und Auszeichnungen, unter anderem den Kinderbuchpreis des Landes NRW.