Autor*innen-Porträts

Karl Otto Mühl

16. Februar 1923 – 21. August 2020

Karl Otto Mühl
© picture-alliance dpa / DB Bernd Hafenrichter

Autor und Ort

Karl Otto Mühl zog 1929 mit seiner Familie von Nürnberg nach Wuppertal. Dort besuchte er die Realschule bis zur Mittleren Reife und absolvierte anschließend eine kaufmännische Lehre. Während des Zweiten Weltkriegs geriet er in Nordafrika in britische Kriegsgefangenschaft und verbrachte fünf Jahre in Lagern in Ägypten, Südafrika, den USA und England; 1947 kehrte er nach Wuppertal zurück. Er holte das Abitur am Carl-Duisberg-Gymnasium nach und arbeitete danach als Werbe- und Verkaufsleiter in einem Industriebetrieb. Erste Geschichten von ihm erschienen bereits in den 1930er Jahren in der Wuppertaler Lokalpresse, Krieg und Arbeit unterbrachen jedoch seine schriftstellerische Tätigkeit. Viele seiner ab den 1970ern verfassten Bücher wurden im Wuppertaler Nordpark Verlag veröffentlicht. 1975 erhielt KOM, wie er manchmal abgekürzt wurde, den Eduard-von-der-Heydt-Kulturpreis der Stadt Wuppertal, 2006 den Literaturpreis der in Wuppertal ansässigen Enno und Christa Springmann-Stiftung. Karl Otto Mühl lebte mit seiner Ehefrau Dagmar bis zu seinem Tod am Uellendahl, einem Stadtviertel von Elberfeld.

Leben und Werk

Geschrieben hat Karl Otto Mühl schon sehr früh. Als Autor aber trat er erst spät hervor. Dann allerdings auf Anhieb mit Erfolg. Er schrieb über die, zu deren Leben es nicht gehörte zu lesen. Mit der Art, wie er es tat, gewann er sie als Leserinnen und Leser. 

Bevor es dazu kam, hatte er aber Zuschauer gefunden. Sein erstes Theaterstück Rheinpromenade, am 9. September 1973 am Schauspielhaus Wuppertal uraufgeführt, wurde ein großer Erfolg und wurde auf vielen westdeutschen Bühnen gespielt. Ihm folgten bis 1995 zehn weitere, von denen einige für das Fernsehen verfilmt wurden. Neben einer Vielzahl an Hörspielen veröffentlichte er die beiden Romane Siebenschläfer (1975) und Trumpeners Irrtum (1981). Nach dem Abebben einer breiten Wahrnehmung entstand seit Ende der 90er Jahre ein umfangreiches Alterswerk, in dem er mit den beiden Romanen Hungrige Könige und Nackte Hunde (beide 2005) seine Kriegserfahrungen als Soldat in Afrika und Gefangener in Australien, den USA und England als Vorgeschichte und Fortführung der Handlung im Siebenschläfer verarbeitete und sich in einer Reihe von Erzählungen einer pointiert reflektierten Schilderung des Alltagslebens widmete. Den Schlussstein seines Lebenswerkes bilden die beiden Gedichtbände Inmitten der Rätsel (2002) und Lass uns nie erwachen (2008). 

In Nürnberg am 16. Februar 1923 geboren, wuchs Mühl ab 1929 in Wuppertal auf, wo er sein Leben im Hauptberuf als Industriekaufmann und als Schriftsteller verbrachte. Bereits als Schüler hatte er erste Erzählungen in der Lokalpresse veröffentlichen können. Als Kriegsgefangener machte er 1944 in den USA die Bekanntschaft des ebenfalls gefangenen Schriftstellers Tankred Dorst, der ihn ermutigte, erste Stücke für die Bühne zu verfassen. Nachdem er aus der Kriegsgefangen zurückgekehrt war und sich in den 50er Jahren als kaufmännischer Angestellter eine Existenz gesichert hatte, nahm er seine literarische Arbeit wieder auf und schloss sich der Künstlergruppe „Der Turm“ um Paul Pörtner an. Seit 1970 mit der Ärztin Dagmar Friebel verheiratet, wurde er Vater dreier Töchter. Er starb am 21. August 2020.

Mühls breite Beachtung bei Kritik, Theaterpublikum und Leserschaft fiel in die Epoche, in der sich die westdeutsche Gesellschaft tiefgreifend veränderte und die aufstrebende Mittelschicht ein neues Kulturinteresse entwickelte. Wie Ingeborg Drewitz, Wolfdietrich Schnurre, Gabriele Wohmann, Dieter Wellershoff schrieb er eine Literatur des Trivialen, ohne dass Trivialliteratur dabei entstand. Ihm gelang eine Versöhnung mit dem Banalen durch dessen respektvoll behutsame Übersetzung in die nicht-banale Sprache eines poetischen Realismus, in dem jene neue Mittelschicht der späten Nachkriegsgesellschaft sich wiederfand. 

 Sich gleichermaßen des Moralismus wie der politischen Agitation enthaltend, fand Mühl zu einer eigenen Ausprägung dessen, was Heinrich Böll in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1966 als „Ästhetik des Humanen“ entwarf, deren Gegenstände „das Wohnen, die Nachbarschaft und die Heimat, das Geld und die Liebe, Religion und Mahlzeiten“ seien. Mühls Poesie genauer Wahrnehmung, Klarheit in der Beurteilung des eigenen Lebens, seiner Umstände, Nöte und Sehnsüchte in festem Selbstvertrauen, gab denen kulturelle Wahrnehmbarkeit und Stimme, die in der Kultur bis dahin kaum vorgekommen waren. Das Milieu kannte Mühl genau, denn er lebte darin als einer jener Angestellten, von deren Leben er erzählte. 

In der späten Lyrik erscheint noch einmal alles, was seine Dramatik und Belletristik im Zeichen jener „Ästhetik des Humanen“ verhandelt hatte. Doch nun nicht mehr in der Perspektive der Lebenserfahrung einer Generation, sondern der Erfahrung des Menschenlebens überhaupt. Noch immer geht es um Geschichte und Erinnerung, aber nun richtet sich der Blick auf einzelne Augenblicke – abschiedlich und todesbewusst, dabei weltaufmerksam und lebenseinverständig, melancholisch, aber ohne Trübsinn. Ohne Anklage dem Unzumutbaren standhaltend und das unscheinbar Erhebende benennend, verdichtet die späte Lyrik in genauer Repräsentanz der Person ihres Autors die bestimmenden Motive seines Werkes. Es bietet für die Nachkriegsgesellschaft Westdeutschlands ein poetisches Gegenstück zu dem, was Sigfrid Kracauers soziologische Feuilletons Die Angestellten für die 20er Jahre leisteten.

Andreas Steffens

Siebenschläfer (Romanauszug)

Februar 1947

Anfang des Monats war ich mit einem Heimkehrertransport aus Frankreich in Wuppertal angekommen. Mit einem Seesack auf der Schulter stapfte ich nachts vom Bahnhof durch den Schnee nach Hause.

Ich kam aus einem französischen Gefangenenlager in der Nähe von Douai. Dorthin hatten uns 1946 die Amerikaner transportiert. Wir mußten in den Kohlebergwerken arbeiten. Ein stürzender Balken hatte mir einen Rückenwirbel angeknackst. Ich war monatelang arbeitsunfähig gewesen und einer der ersten, die entlassen worden waren.

Es brennt ja Licht, dachte ich, als ich durch die Straßen ging und meinen Seesack von einer Schulter auf die andere wuchtete. Es brennen ja Öfen; man sieht den Rauch gegen den Nachthimmel. Die ganze Welt ist plötzlich wieder da. Am besten ganz gleichmütig bleiben, nicht zu viel auf einmal wollen. Sonst wirst du verrückt.

Ich war noch nicht vierundzwanzig. Ich war gesund. Selbst wenn ich am Anfang etwas falsch machte, konnte ich es bei dem langen Leben, das vor mir lag, mehrmals korrigieren. Mir konnte nichts passieren. Nicht einmal an die falsche Frau konnte ich geraten. Ich würde einfach nicht heiraten, bis ganz sicher war, daß ich die Richtige gefunden hatte.

Die Wohnung meiner Eltern in der Markomannenstraße war durch Bomben nicht zerstört worden. Einmal war aus ruhigem Mittagshimmel eine englische Maschine auf Wuppertal herabgestoßen und hatte Straße und Häuser mit Maschinengewehrsalven eingedeckt. Meine Mutter behauptete, der Pilot hätte sie gesehen. Aber er habe nicht auf unser Haus geschossen, sagte sie. Dagegen hatte eine Luftmine, die weiter entfernt in der Markomannenstraße fiel, die Fensterscheiben der Wohnung zerplatzen lassen. Eine Zeitlang mußten Pappdeckel das Glas ersetzen.

(aus: Karl Otto Mühl: Siebenschläfer. Hermann Luchterhand Verlag, Darmstadt/Neuweid 1975, S.7.)