Autor*innen-Porträts

Jo Micovich

9. Mai 1926 – 8. Juli 2008

Jo Micovich
© Alicia Fassel

Autorin und Ort

Für Jo Micovich, geboren und gestorben in Wuppertal, war die Stadt an der Wupper stets ein Fixpunkt – dorthin kehrte sie zurück, wenn sie auf Tour mit ihrem Reisetheater gewesen war oder sich für einige Zeit ins katalonische Cadaqués zurückzogen hatte. Sie wurde mitunter als Grande Dame der Wuppertaler Literaturszene bezeichnet, als Sprecherin im Verein deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller setzte sie sich für die hiesige Autor*innenschaft ein, gab Schreibworkshops, unter anderem in der Justizvollzugsanstalt Wuppertal. Schreiben galt ihr als Lebenshilfe. Jo Micovich lebte bis zu ihrem Tod 2008 in der Breslauer Straße im Stadtteil Wichlinghausen.

Leben und Werk

Jo Micovich, geboren 1926 in Wuppertal, hieß eigentlich Jo Mitzkéwitz und glänzte durch eine Mehrfachbegabung. Sie trat als Puppenspielerin auf, war Schriftstellerin und leitete als Dozentin literarische Seminare.

Die Tochter eines Verwaltungsbeamten hatte in ihrer Heimatstadt die Realschule besucht und nahm anschließend Schauspielunterricht. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sie sich zusätzlich zur Puppenspielerin ausbilden und gründete ein kleines mobiles Puppentheater. Damit besuchte sie in den nächsten drei Jahrzehnten vornehmlich Grundschulen und Kindergärten. Aufgrund ihrer reichen Erfahrung verfasste sie ein später beliebtes Lehrbuch. Es erschien 1977 in Wuppertal unter dem Titel Das 1x1 des Handpuppenspiels.

Mitte der 70er Jahre trat sie zunehmend als Schriftstellerin hervor. In erster Linie schrieb sie kleine Theaterstücke und Hörspiele, die auch aufgeführt bzw. im Rundfunk gesendet wurden. In einem der bekanntesten Hörspiele mit dem Titel Cranger Kirmes von 1989 verliebt sich ein Junge aus dem Ruhrgebiet in ein Mädchen aus Bayern. Reizvoll daran sind die Gegensätze der sprachlichen Dialekte und der jugendlichen Gefühle. Darüber hinaus verfasste Micovich auch Lyrik. Hier ist beispielhaft der Band An den Absturz gelehnt von 1985 zu nennen. Die darin enthaltenen Gedichte sind dem spanischen Dichter Federico García Lorca gewidmet, der 1936 während des Bürgerkrieges in seinem Heimatland von Faschisten erschossen worden war. Zu dessen 50. Todestag erinnerte Micovich, die sich der spanischen Kultur verbunden fühlte, mit einem eigenen Zyklus an die Poesie des großen Vorbilds. 2008 erschien die Erzählung Niemand ist entkommen. Eine Jugend in Hitlerdeutschland. Darin erinnert sich ein alter Mann an die Bombenangriffe im Krieg, die Kinderlandverschickung und seine Begegnung mit Widerständlern. Offenkundig eine geistige Reise zurück in Micovichs eigene Jugendzeit.

Die Autorin gab zudem Schreib- und Literaturkurse in Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Auch in Justizvollzugsanstalten hat sie unterrichtet. Ihre Erfahrung dort verarbeitete sie in einem Hörspiel aus dem Jahre 1989, das Haft und Resozialisierung thematisiert.

Jo Micovich starb im Juli 2008 in Wuppertal.

Von Ernst Müller

Niemand ist entkommen (Auszug)

Er hat auch in der Nacht, in der die Stadt getroffen wird, keine Angst. Seine Eltern und er sind die letzten, die den Luftschutzkeller verlassen. Sie tun das erst, als Steinbrocken sich von den Wänden lösen und herunterstürzen, als die Flammen sich nähern. Die anderen Hausbewohner sind vorher nach draußen gelaufen. Das tun der Junge und seine Eltern nun auch. Die Haustür müssen sie nicht mehr öffnen, sie ist weggefegt vom Feuersturm.

Sie laufen. Sie wollen entkommen. Sie laufen an einer Mauer entlang. Dahinter ist ein Lager mit Russinnen. Die Bewacher lassen sie nicht fort aus ihrer Gefangenschaft. Sie kommen alle ums Leben. Davon weiß der Junge nichts, nicht einmal, dass es dort Russinnen gibt. Er erfährt das erst nach dem Krieg. Jetzt hält er sich ein Taschentuch vor den Mund, wie es sein Vater gesagt hat. Funken und Asche fliegen ihm entgegen, aber die Flüchtenden kommen durch, hinauf, in die Schrebergärten auf den Hügeln über der Stadt. Dahin sind auch die anderen Hausbewohner entkommen. Sie alle haben nichts bei sich, nur das, was sie am Körper tragen. Das ist oft unvollständig oder zufällig. Es blieb keine Zeit zwischen dem Heulen der Sirenen und den ersten Einschlägen der Bomben.

Der Alte notiert: Ich habe keine Angst gehabt, aber ich hätte Angst haben müssen.

(aus: Jo Micovich: Niemand ist entkommen. Eine Jugend in Hitlerdeutschland 1943 bis 1945. NordPark Verlag, Wuppertal 2008, S. 10.)