Autor*innen-Porträts

Anja Lundholm

28. April 1918 – 4. August 2007

Anja Lundholm
dpa picture-alliance / Klaus Morgenstern

Autorin und Ort

Die Schriftstellerin Anja Lundholm kam in Düsseldorf zur Welt. Aufgewachsen ist sie in Krefeld, wo sie das Lyzeum besuchte, das heutige Ricarda-Huch-Gymnasium. Vor der Engel-Apotheke an der Ecke Uerdinger Straße/Philadelphiastraße, die früher von ihrem Vater betrieben wurde, befinden sich Stolpersteine für sie und ihre Mutter. 2003, inzwischen in Frankfurt lebend, wurde sie mit dem Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld ausgezeichnet.

Leben und Werk

Anja Lundholm war Schriftstellerin – und Holocaust-Überlebende. Im Spiegel-Magazin wurde sie „eine Zeugin des Schreckens und Chronistin der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ genannt. Wie kann man einem Leben mit solch grauenvollen Erlebnissen beschreibend gerecht werden?

Geboren wurde Anja Lundholm als Helga Erdtmann 1918 in Düsseldorf. Sie wuchs in Krefeld bei ihrer jüdischen Mutter Elisabeth Blumenthal und ihrem Vater Erich Erdtmann auf, einem Krefelder Apotheker und glühendem Nazi. 1936 verließ Lundholm die Stadt, studierte an der Staatlichen Hochschule für Musik in Berlin und übernahm nebenbei kleine Rollen in Filmen der Ufa. Das Studium konnte sie aufgrund ihres fehlenden „Ariernachweises“ nicht beenden. Als „Halbjüdin“ verfolgt, floh sie 1941 nach Rom, wo sie sich einer Widerstandsgruppe anschloss.

Zwei Jahre später verhaftete sie die Gestapo, nachdem ihr eigener Vater, der bereits 1934 in die SS eingetreten war und seine Ehefrau in den Selbstmord getrieben hatte, sie an die Nationalsozialisten verriet. Lundholm wurde wegen Hochverrats in Innsbruck verurteilt und in das Konzentrationslager Ravensbrück gebracht. Ab Ende 1944 war sie Zwangsarbeiterin in einem Außenlager, aus dem sie mit anderen Häftlingen im April 1945 auf einen „Todesmarsch“ geschickt wurde. Sie konnte fliehen und gelangte durch den sowjetischen in den britischen Sektor nach Lüneburg. 

Nach Ende der NS-Herrschaft lebte sie in Brüssel, heiratete einen Schweden und nahm dessen Staatsbürgerschaft an. Lundholm arbeitete als Dolmetscherin und freie Journalistin in Brüssel, Stockholm und London. In den 1950er Jahren erkrankte sie an Multipler Sklerose. Als Grund für die Erkrankung sah sie die an ihr im KZ durchgeführten medizinischen Versuche. Nachdem ihre Ehe geschieden wurde, ließ sich Lundholm in Frankfurt am Main nieder, wo sie bis zu ihrem Tod als Schriftstellerin und Übersetzerin arbeitete.

Lundholm war Mutter von zwei Kindern. Diana wurde bereits 1943, kurz vor ihrer Verhaftung, geboren und galt bis Anfang der 1950er Jahre als verschollen. Aus ihrer Ehe ging Sohn Melvyn hervor. 1953 wurde ihr auf Betreiben ihres inzwischen entnazifizierten Vaters das Sorgerecht über ihre beiden Kinder entzogen.

Im Jahr 1961 starb Lundholms Vater, erst danach war es ihr möglich, die erlebten Greuel schriftstellerisch zu verarbeiten. 1966 erschien ihr Buch Halb und halb, in dem sie ihre Erlebnisse als Kind einer Jüdin und eines Nazis während der NS-Zeit schilderte. Trotz des zunächst ausbleibenden Erfolgs schrieb sie weiter, meist autobiografisch geprägte Romane. 1972 erschien Der Grüne, eine Abrechnung mit dem Vater, 1988 Höllentor, ein Zeugnis der schrecklichen Erlebnisse im KZ Ravensbrück. Der Roman erregte in der Bundesrepublik großes Aufsehen und wurde zum Bestseller. Es folgten zahlreise Preise, darunter der Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis, der Hans-Sahl-Preis und die Goethe-Medaille. 2003 erhielt Lundholm den Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld. Selbst für den Nobelpreis wurde sie vorgeschlagen. 

Anja Lundholm starb am 4. August 2007 im Alter von 89 Jahren in Frankfurt am Main.

Ihr Enkel, Nicolas Beyer, besuchte 2017 anlässlich einer Gedenkveranstaltung Krefeld. „Sie starb nicht als Gebrochene, sondern als jemand, der seinem Schicksal ein erfülltes Leben abgerungen hat und sich nie von Hass und Verzweiflung hat überwinden lassen“, sagte er in einer Rede. Sie sei, so Beyer, nie von Bitternis erfüllt, sondern durchdrungen gewesen von dem Willen zu verstehen, warum Menschen in Hass verfielen – und von dem Wunsch, den nachfolgenden Generation von dem Hass und dem Morden in der NS-Zeit zu berichten, auf dass so ewas nie wieder passieren möge.

Von Nina Höhne

Das Höllentor (Romanauszug)

Juni 1944

Der Tag war heiß gewesen. Die Sonne des Vortags hat den schwarzen Sand der Lagerstraße von den Lachen des Dauerregens befreit. Ein Hauch von Wind trägt uns, die wir in langen Reihen zum Zählappell angetreten sind, von den Kieferwäldern her reinen Harzgeruch zu. Im Krematorium wird erst zum Nachmittag geheizt. Der Lagerführer selbst sorgt dafür, daß zügig verbrannt wird, damit der süßliche Gestank aus dem Schlot über Nacht abwandern kann. Es heißt, das wellige Land zwischen Havel und Uecker mit seiner Seenplatte sei leiblich, sehr still, sehr weit. Wir sehen es nicht. Weihen und Fischadler kreisen über den nahen Schwedtsee. Wir sehen ihn nicht, doch wir hören die Schreie der Wildvögel. Unsere Sicht endet bei der von Starkstromdrähten gekrönten Mauer, die das gewaltige Frauenlager umgibt. Über einhunderttausend gefangene Frauen. Und täglich kommen weitere Transporte an.

Wir stehen salopp, gezeichnet von einer Müdigkeit, die weit über das Körperliche hinausreicht. Alte, Junge, viele Kranke, mehrere langsam Sterbende. Sie haben es besonders schwer. Solange noch ein Funke Leben in ihnen ist, haben sie anzutreten und mit den anderen strammzustehen; auf solche, die dabei umfallen, werden die Hunde losgelassen. So bleiben sie gerade aufgerichtet, bis die Uhle, die Sirene, das Ende des Appells meldet. Während die Masse der übrigen sich zur Arbeitseinteilung einreiht, sinken sie still, tot in sich zusammen und werden zur Nacht weggeräumt.

(aus: Anja Lundholm: Das Höllentor. Bericht einer Überlebenden. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 9.)