Autor*innen-Porträts

Johann Heinrich Jung-Stilling

12. September 1740 – 2. April 1817

Johann Heinrich Jung-Stilling

Autor und Ort

Johann Heinrich Jung-Stilling verließ mit 22 Jahren seine Heimat im Siegerland und arbeitete von 1762 bis 1763 als Hauslehrer in Hückeswegen-Hartkopsbever bei der wohlhabenden bergischen Hammerwerksbesitzerfamilie Hartskop, nach der der Ort später benannt wurde. Das Haus Hartkopsbever 14 trägt heute Jung-Stillings Namen und wird nach wie vor als Wohnhaus genutzt. Über dem Haupteingang ist eine Plakette angebracht mit der Inschrift: „Selig sind, die da Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen.“ Jung-Stilling zog weiter und verbrachte sieben Jahre im bergischen Ort Kräwinkel-Dörpe, wo er als Hauslehrer, Buchhalter und Geldeintreiber für den Unternehmer Peter Johannes Flender arbeitete. Das Grundstück, auf dem dessen Fachwerkhaus stand, ist in den Fluten der Wuppertalsperre versunken. Jung-Stilling schreibt über diese Zeit in seinen Lebensbeschreibungen: „So wie ich hier Stillings Lebensart beschrieben habe, so dauerte sie, ohne eine einzige trübe Stunde dazwischen zu haben, sieben ganzer Jahre in einem fort; ich will davon nun nichts weiter sagen, als daß er in all dieser Zeit, in Absicht der Weltkenntnis, Lebensart, und obigen häuslichen Wissenschaften ziemlich zugenommen habe.“ Nach einem kurzen Studium in Straßburg zog es Jung-Stilling ins Bergische zurück. Er wirkte einige Zeit als Augenarzt in Elberfeld, wo Goethe ihn besuchte, folgte jedoch bald einem Ruf aus der Kurpfalz.

Leben und Werk

Zu seinen Lebzeiten war Johann Heinrich Jung-Stilling allseits bekannt, sogar berühmt. Heute wird er nur noch von Liebhabern gelesen. Das ist allerdings ungerecht. Denn sein Hauptwerk, die romanhaft verfassten Lebenserinnerungen, bilden einen anschaulichen Einblick in die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts.

Johann Heinrich Jung wurde 1740 in ärmliche und ländliche Verhältnisse des Rothaargebirges hineingeboren. Es war nicht abzusehen, dass aus ihm einmal ein großer Arzt, Spezialist für Staroperationen, ein Professor der Staatswissenschaften und ein anerkannter Schriftsteller werden würde. Doch glückliche Umstände und seine geistige Energie bewirkten, dass Jung Anfang der 1770er Jahre in Straßburg Medizin studieren konnte. Dort lernte er den jungen Goethe, der Jungs Lebenserinnerungen unter dem Titel Heinrich Stillings Jugend 1777 in Druck geben ließ. In der Schrift gibt Jung seiner Hauptperson den Nachnamen Stilling und den Ortschaften ebenfalls fiktive Namen. Zudem ist der Roman in der dritten Person geschrieben, also in Distanz zum Autor. Doch die Übereinstimmung mit Jungs eigener Biografie wird durch den Untertitel Eine wahrhafte Geschichte unterstrichen. Das Buch, ein wichtiger Vorläufer des Entwicklungsromans, wurde ein Erfolg und sein Autor ging unter dem Doppelnamen Jung-Stilling in die Literaturgeschichte ein. Später übernahmen die Brüder Grimm drei Märchen aus seiner Lebensgeschichte in ihre Sammlung: Jorinde und Joringel, Der alte Großvater und sein Enkel und Die alte Bettelfrau.

Jung-Stilling ließ dem ersten Teil weitere Bände folgen. Darin beschrieb er seine „Jünglingsjahre“, seine „Wanderschaft“ und schließlich sein „häusliches Leben“ im Alter. Mit Goethe und seinem Kreis verlor sich der Kontakt. Das hatte wohl nicht nur persönliche, sondern vor allem künstlerische Gründe. Jung-Stilling war im strengen Pietismus aufgewachsen, einer besonders innigen Form des Christlichen. Und so führte er in seinen Schriften die Entwicklungsschritte seines Helden gern auf göttlichen Beistand zurück, während Goethe eher an einer psychologischen Durchdringung interessiert war.    

Jung-Stilling veröffentlichte als Professor Lehrbücher über Wirtschaft und schrieb eine Reihe von Romanen. Diese waren am Geschmack der Zeit orientiert und sind heute weitgehend vergessen. Der Pietismus spielt darin eine nicht unwesentliche Rolle. Jung-Stilling hatte sich damit geistig von den Idealen der Aufklärung entfernt und folgte einer konservativen Richtung. Er starb 1817 in Karlsruhe.     

Von Ernst Müller

Heinrich Stillings Jugend (Auszug, 1777)

Nun fing auch unser Heinrich an in die lateinische Schule zu gehen. Man kann sich leicht vorstellen, was er für ein Aufsehen unter den anderen Schulknaben machte. Er war bloß in Stillings Haus und Hof bekannt, und war noch nie unter Menschen gekommen; seine Reden waren immer ungewöhnlich, und wenig Menschen verstunden, was er wollte; keine jugendliche Spiele, wornach die Knaben so brünstig sind, rührten ihn, er ging vorbei und sah sie nicht. Der Schulmeister Weiland merkte seinen fähigen Kopf und großen Fleiß; daher ließ er ihn ungeplagt; und da er merkte, dass ihm das langweilige Auswendiglernen unmöglich war, so befreite er ihn davon, und wirklich, Heinrichs Methode Latein zu lernen, war für ihn sehr vorteilhaft. Er nahm einen lateinischen Text vor sich, schlug die Worte im Lexikon auf, da fand er dann was jedes für ein Teil der Rede sei; suchte ferner die Muster der Abweichungen in der Grammatik usf. Durch diese Methode hatte sein Geist Nahrung in den besten lateinischen Schriftstellern, und die Sprache lernte er hinlänglich schreiben, lesen und verstehen.

(zitiert nach: Johann-Heinrich Jung-Stilling: Heinrich Stillings Jugend. Reclam-Verlag, Stuttgart 1968, S. 69f.)