Autor*innen-Porträts

Lea Goldberg

29. Mai 1911 – 15. Januar 1970

Lea Goldberg

Autorin und Ort

Lea Goldberg, eine der bedeutendsten hebräischen Schriftstellerinnen, hielt sich Anfang der 1930er Jahre als Doktorandin in Bonn auf. Dort wurde sie 1933 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zur Dr. phil. promoviert. Sie wohnte in dieser Zeit in der Weberstraße 10. In dem 1932 verfassten Gedicht „Jamim levanim“ (Weiße Tage) heißt es: „Groß ruht die Einsamkeit aus auf der Weite des Stroms“ – gemeint ist der Rhein, der nicht weit von ihrer Wohnung entfernt war. Über das Rheinland und speziell Köln schrieb sie auch in ihrem 1937 erschienenen Debüt-Roman Briefe von einer imaginären Reise, der erst über 60 Jahre später ins Deutsche übersetzt wurde.

Leben und Werk

Lea Goldberg, eine der bedeutendsten und vielfältigsten Schriftstellerinnen Israels, verbrachte als Studentin prägende Jahre in Berlin und Bonn. Anfang der 30er Jahre, als sich die hebräische Sprache auf dem biblisch-antiken Fundament in eine moderne, säkulare Literatursprache verwandelte, schrieb sie in Deutschland hebräische Lyrik, die heute in Israel als klassisch gilt und ungebrochen populär ist. Das Gedicht „Jamim levanim“ (Weiße Tage) aus Goldbergs Lyrik-Debüt Tabe’ot Aschan (Rauchringe) wurde durch Shlomo Ydovs Vertonung zum Ohrwurm. Entstanden ist es 1932 in Bonn: „Groß ruht die Einsamkeit aus auf der Weite des Stroms“ – gemeint ist der Rhein, der unweit der Weberstraße 10 fließt. Hier hatte Lea Goldberg eine Wohnung bezogen, um ihre semitistischen Studien bei dem weltbekannten evangelischen Theologen und Orientalisten Paul Kahle fortzusetzen. Ihre 1935 bei Kohlhammer erschienene Dissertation widmet sich unter dem Titel Das samaritanische Pentateuchtargum. Eine Untersuchung seiner handschriftlichen Quellen der Übersetzung der samaritanischen Tora ins Aramäische. Wenig später emigrierte Goldberg ins damalige Mandatsgebiet Palästina. Ihre beiden Romane Briefe von einer imaginären Reise (im Original erschienen 1937; 2003 übersetzt von Lydia Böhmer) und Verluste – Antonia gewidmet (posthum 2010 erschienen und 2016 übersetzt von Gundula Schiffer) sind literarische Dokumentationen ihrer „Lehrjahre in Deutschland“ (so der Titel eines Buches von Yfaat Weiss über die Autorin). Ein Köln, wo die Protagonistin Ruth die Cafés auf dem Ring aufregender findet als die in Berlin, kennen die meisten von uns nicht mehr.

Obwohl ihr Werk im Kontext zentraler historischer Ereignisse steht, sind politische Themen ebenso wie Motive der religiösen jüdischen Tradition oder zionistische Bekenntnisse in Goldbergs Werk selten. Auch das jahrtausendelange Leiden des jüdischen Volkes unter Unterdrückung und Pogromen im Exil und das unfassbare Grauen der Schoa kommen kaum zur Sprache. Besonders häufig kreisen ihre klangschönen, bildlich prägnanten und tiefsinnigen, oft bewusst schlichten Gedichte um das Thema Liebe. So universal wie ihre poetische Bildung, so universal ist auch ihr hebräisches Schreiben.

Geboren wurde Lea Goldberg am 29. Mai 1911 in Königsberg, der damaligen Hauptstadt Ostpreußens, weil dort die medizinische Versorgung besser war als im litauischen Kaunas, wo sie aufwuchs. Die Mutter Zilla sprach Russisch mit ihr, der Vater Avraham war Jiddischist, und ab 1920 besuchte sie das Hebräische Gymnasium in Kaunas. Mit zehn Jahren erklärte sie in ihrem Tagebuch, das sie auf Hebräisch schreibt, in dieser Sprache Schriftstellerin werden zu wollen. Während des Ersten Weltkriegs und bis zum Ende der Oktoberrevolution wurde die Familie nach Russland vertrieben und der Vater geriet zu Unrecht unter Spionageverdacht. Aufgrund der Folterungen erkrankte er psychisch, sodass die Eltern sich trennten. Die Mutter verließ später mit der Tochter Litauen und lebte bis zu Lea Goldbergs Tod am 15. Januar 1970 mit ihr in Jerusalem zusammen.    

Noch bevor Lea Goldberg 1935 in Tel Aviv ankam, war ihr erster Lyrik-Band in der israelischen Metropole erschienen. In den folgenden Jahren ging sie verschiedenen Tätigkeiten nach, beriet das Habima-Theater, wirkte als Literaturkritikerin für verschiedene israelische Tageszeitungen und wurde 1954 als Dozentin für Allgemeine Literaturwissenschaft an die Hebräische Universität in Jerusalem berufen, wo sie von 1964 bis zu ihrem Tode Professorin am Lehrstuhl für Komparatistik war. Über rund drei Jahrzehnte hinweg entstand ein umfangreiches Œuvre, hauptsächlich aus Lyrik, darüber hinaus drei Romane, ein Theaterstück sowie zahlreiche Kinderbücher, die in keinem israelischen Haushalt fehlen. Darüber hinaus hat Goldberg eine polyglotte Vielzahl an Übersetzungen der Weltliteratur vorgelegt, in erster Linie aus dem Russischen und Italienischen. Selbst eine Poeta docta, galt ihre besondere Verehrung dem Dichter Dante, aus dessen Divina Commedia sie übersetzte. Auch die erste hebräische Übersetzung von Petrarcas Sonetten stammt aus ihrer Hand. Große Romane wie Tolstois Krieg und Frieden ebenso wie die altfranzösische Liebesdichtung Aucassin et Nicolette hat sie ins Hebräische gebracht. Das Medium der Übersetzung ermöglichte es ihr, sich das geliebte Europa in Texten als Heimat zu bewahren.  

Lea Goldberg malte mit Worten; einst hatte sie noch überlegt, sich auch intensiver der Malerei und dem Zeichnen zu widmen. Ihre Übersetzung von Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche beispielsweise illustrierte sie selbst. Erst als sie an Krebs erkrankte und literarisch verstummte, nahm die Nebenleidenschaft plötzlich mehr Raum ein: Im Krankenhaus bedeckte sie die weißen Wände mit Zeichnungen. Lea Goldberg starb im Alter von 58 Jahren und liegt auf dem Jerusalemer Hauptfriedhof Har ha-Menuchot (Berg der Ruhe) begraben.

von Gundula Schiffer

Briefe von einer imaginären Reise (Romanauszug)

Im Nebenabteil saßen drei Männer. Ich trat hinaus in den Gang. Sie sprachen über Frauen – der eine mit Haß, der zweite ironisch und verachtungsvoll, der dritte seine Lippen leckend – so empfand ich es. Es ist einzigartig, ich habe es einige Male bemerkt – Ihr, die Männer, wenn Ihr unter Euch seid, könnt dieses seltsame Bedürfnis nicht bezwingen, über Frauen zu sprechen – wie Antisemiten über Juden.

Doch das nur nebenbei. Viel wichtiger waren diese Schienen unter mir, die ich in der Nacht nicht sehen konnte. Es war nur merkwürdig klar: Wenn man das Herz eines Menschen aus seiner Brust schneidet, es an der Lokomotive festbindet und über die Schienen davonführt, wird dieses Herz, das inniglich an sein „Dort“ gebunden ist, sich doch überhaupt nicht von der Stelle bewegen. Wenn dem so ist, weshalb fährt dann der „ganze Mensch“, aus Fleisch und Blut, mit seinem törichten, ironischen Verstand und seinem schweren Herzen, das an das „Dort“ gebunden ist“, an dem Du bist, überhaupt fort?

Und ich fuhr fort, und mit mir fuhr die Nacht, und es ging uns nicht gut.

Und als der Tag anbrach, flogen hinter dem Fenster die Felder Westfalens vorbei, man sah Frauen in schwarzen Tüchern, roten Kleidern und klopsförmigen Haarknoten über der Stirn. Es hatte etwas von der goldenen bayerischen Landschaft. Das Rheinland. Köln.

(aus: Lea Goldberg: Briefe von einer imaginären Reise. Aus dem Hebräischen von Lydia Böhmer. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, S. 38.)