Martin Boelitz wuchs in Wesel am Niederrhein auf und veröffentlichte bereits mit 19 Jahren erste Texte, zunächst in verschiedenen Zeitschriften. Eine wichtige Rolle in dieser frühen Zeit seines Schaffens spielte Boelitz‘ spätere Ehefrau Maria Herff, der er fast jedem Brief an sie ein neues Gedicht beilegte. So entstanden binnen weniger Jahre einige Hundert Texte. Sein erster eigenständiger Lyrikband erschien 1896 und trug den Titel Aus Traum und Leben. Er erregte damit die Aufmerksamkeit von Rainer Maria Rilke, der Boelitz‘ Erstlingswerk im „Deutschen Abend-Blatt“ würdigte und zwei Gedichte in seine Zeitschrift Wegwarten aufnahm.
Diese und auch spätere Werke von Boelitz, die der Neoromantik zuzuordnen sind, lassen heute schnell den Verdacht des Kitschs aufkommen. Doch zur Jahrtausendwende des 19. zum 20. Jahrhundert wurde der Dichter enthusiastisch aufgenommen, gerade wegen seiner positiven, unbeschwerten Stimme, die ein Gegengewicht zum Fatalismus des Fin de Siècle und zur Nüchternheit des Naturalismus bildete. Boelitz berief sich unmittelbar auf die Klassiker der eigentlichen, ursprünglichen Romantik, etwa Joseph von Eichendorff, dem er sich auch deshalb nahe fühlte, weil dieser ebenfalls einem schnöden Brotberuf nachging und sich nach getaner Arbeit ins Schreiben flüchtete.
1899 zog es Boelitz geschäftlich nach London. Die Zeit dort, weit entfernt von der niederrheinischen Heimat, schlug sich in dem Band London nieder, der eine andere Seite von Boelitz zeigte. In den dort versammelten Gedichten kritisierte der Autor, der bislang vor allem als unpolitischer Naturdichter in Erscheinung getretenen war, mehr oder weniger direkt die Arbeits- und Lebensverhältnisse in der industriell geprägten Metropole, die er auf Streifzügen erkundete. „Gentlemen, seht ihr denn nicht dies Weh?? / Hunger stillt man nicht mit dünnem Thee“, lautet eine Zeile aus dem „Soziale Gedichte“ untertiteltem Band. Aus heutiger Sicht wirkt die Kritik schnell wohlfeil, zumal Boelitz diese auf England beschränkte, dabei hatte er die Auswüchse der kapitalistischen Moderne zuvor auch in Berlin kennengelernt.
Die Episode in London dauerte letztlich nur zwei Jahre. 1901 kehrte Boelitz nach Deutschland zurück, zunächst nach Köln, wo er – bis zu ihrer Einstellung 1902 – die Kulturzeitschrift Das neue Jahrhundert redigierte. Bereits zuvor hatte er Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt als Herausgeber von Stimmen der Gegenwart, einer Monatsschrift für Literatur und Kritik. Nach weiteren Stationen in Düsseldorf, Genf und München, wo er keine feste Anstellung fand, zog Boelitz 1903 nach Nürnberg. Dort arbeitete er beim englischen Verlag E. Nister, für den er eine deutsche Kinderbuch- und Jugendschriftenabteilung aufbaute. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieg musste der Verlag seine Geschäfte in Deutschland beenden. Boelitz kehrte schließlich 1915 mit der inzwischen gegründeten Familie nach Wesel zurück, wo er unter anderem Herausgeber der Weseler Zeitung wurde.
Am 5. Dezember 1918, im Alter von 44 Jahren, erlag Boelitz einem Leberleiden. In seinen letzten zehn bis fünfzehn Jahren hatte er kaum noch geschrieben und veröffentlicht. Der lyrische Nachlass von Boelitz, seine Skizzen und Korrespondenzen (er stand unter anderem mit Stefan Zweig in Kontakt) gelten heute als verschollen, sodass nur die Endfassungen in gedruckter Form geblieben sind.
Von Miriam Betge
Nacht bei Wesel am Rhein
Die Sterne über mir und alles still,
Kein Wanderschritt auf den durchweichten Gängen,
Wenn doch die Amseln in den Hecken sängen!
Nur manchmal pfeift der Bootsmann hell und schrill.
Dann schließt die Brücke wieder sich zusammen,
Die dunkeln Segeln gleiten scheu vorbei,
Und wie ein stummer, nachterstickter Schrei,
Verlöschen jetzt im Hafen alle Flammen.
Ich blicken sinnend in den breiten Strom,
Und mit den Wellen reisen meine Träume,
Nun bricht das Mondlicht durch die dichten Bäume,
Verzitternd klingt das Glockenspiel vom Dom.
Der Türmer singt die Mitternacht zu Ende,
Mich aber trägt mein Nachen weit hinaus, –
Ganz selten noch ein halberhelltes Haus,
Und dann zuletzt kein Dach mehr im Gelände.
Nur aus der Tiefe lockt es immerzu:
„Wir wollen dich in frohen Schlummer wiegen,
Soll dir die Not noch mehr den Nacken biegen?
Du zwingst sie nicht, vermess’ner Träumer du!“
Und immer süßer tönen rings die Lieder,
Da wirft der Tag die Fackel auf den Strand,
Mit hartem Schlag reiß‘ ich das Boot ans Land
Und geb‘ dem Morgen seinen Sänger wieder.
(aus: Martin Boelitz: Lieder des Lebens. Neue Verse. Pierson, Dresden/Leipzig 1900.)