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Kolumne

„Dramatik ist wichtig für den Unterhaltungs­wert“

Illustration eines singenden Männchens mit Smartphone
© Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Unsere Kolumnistin Julia von Lucadou denkt über die Fiktion in der Doku und die Doku in der Fiktion nach.

– von Julia von Lucadou

Bildrechte: © Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Hier schreiben im Wechsel Autor*innen aus dem Rheinland über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind. Heute: Julia von Lucadou

„Dramatik ist wichtig für den Unterhaltungswert. Ich will meine Geschichte auf möglichst ansprechende, fesselnde, amüsante Art erzählen.“ Das sagt Ernesto, 20 Jahre jung, ehemals drogenabhängig und jetzt Teilzeit-Model. Er hat sich für einen Podcast beworben, weil er seine Lebensgeschichte erzählen möchte. Die Autorin des Podcasts, Jess Shane, will ihm das ermöglichen. Sie hat jahrelang erfolgreich Audio-Reportagen produziert, in denen sich jedoch, wie sie herausfand, die Porträtierten selbst oft nicht authentisch dargestellt fühlten. Deshalb hat sie ein schlechtes Gewissen. Und möchte nun in diesem Podcast den Interviewpartner*innen die Kontrolle über ihre Geschichten zurückzugeben.

Ich kann Jess Shanes Skrupel verstehen. Ein Grund, warum ich mich entschied, meinen Job als Fernsehredakteurin im Bereich „Non-Fiction“ an den Nagel zu hängen, um Romane zu schreiben, war, dass mir die Fiktion als Medium, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, ehrlicher und ethischer vorkam. Romane behaupten nicht, dass sie die „echte“ Realität abbilden, und können dennoch Lebensverhältnisse glaubwürdig darstellen. Während dokumentarische Formate ihr Versprechen schon im Namen tragen: Wir lesen, sehen und hören sie als Dokumente, als authentische Zeugnisse einer echten Lebensrealität. Dabei sind auch sie nach subjektiven Kriterien ausgewählt und zugeschnitten. Als Fernsehredakteurin hatte ich immer wieder ein schlechtes Gewissen, wenn ich meinen Interview-Partner*innen buchstäblich das Wort abschnitt. Wir führten lange, interessante Gespräche, wovon am Ende höchstens zwei, drei kurze, aufs Wesentliche reduzierte sogenannte „O-Töne“ im Beitrag landeten. Ich wäre enttäuscht gewesen, so reduziert zu werden. 

In Ernesto hat Jess Shane einen Interviewpartner gefunden, der kein Problem mit der Reduktion seiner Person hat. Ihm ist völlig klar, dass er eine Rolle spielt. Immer wieder fragt er die Reporterin, was er sagen, mit welchem Akzent und wie schnell er sprechen soll. Er ist ein echter Medienprofi, so wie viele junge Menschen seiner Generation. Sie wurden ins Zeitalter der sozialen Medien geboren, in denen jede Nutzer*in, die etwas postet, auch „Content Creator“ ist. Der „Content“ ist dabei meistens das eigene Leben, und die Selbstdarstellung muss den Kriterien des Marktes folgen, wenn man im Überangebot der Fotos und Videoclips nicht untergehen möchte. Je dramatischer, desto mehr Aufmerksamkeit, desto mehr Likes. Wir alle werden von den digitalen Medienplattformen zum Buhlen um Aufmerksamkeit erzogen, denn sie ist ihr Wirtschaftsprinzip: je mehr „Engagement“, desto mehr persönliche Daten und somit Werbeeinnahmen.

„ Gibt es im Zeitalter der digitalen Medien (...) überhaupt noch eine klare Unterscheidung zwischen authentisch und künstlich? “

Vor Kurzem lief ich an einem hippen japanischen Burger-Restaurant vorbei. Durch die große Fensterfront sah ich eine junge Frau alleine an einem Tisch sitzen. Vor ihr standen ein Ring-Light und ein Stativ mit ihrem Smartphone. Auf dessen Bildschirm sah ich das hübsche, perfekt ausgeleuchtete Gesicht der Frau im Livestream. Man konnte ihr dabei zusehen, wie sie in die Kamera lächelnd ihr Essen verspeiste. In einer Endlosschleife liefen Herzen, Kuss-Emojis und tausende Komplimente durchs Bild. Ihr Abendessen war zu einem medienwirksamen, marktfähigen Event geworden. Die Streaming-Plattform Twitch eröffnete 2016 sogar einen eigenen Kanal für dieses sogenannte „Social Eating“. Aber was ich durch die Fensterfront beobachtete, kam mir weder sozial noch authentisch vor: eine allein essende Frau, perfekt inszeniert und dank Videofilter beinahe roboterhaft schön, die wahrscheinlich kaum etwas vom Geschmack des Essens mitbekam, weil sie damit beschäftigt war, auf die vielen Kommentare zu antworten.

Professionelle Content Creator sprechen oft vom Erfolg ihrer „Brand“, einer Version ihrer selbst, die auf eine bestimmte Rolle reduziert ist: die Essende, die Mami, die Fitte, die Dicke, die Spirituelle, die Humorvolle, die Expert*in für X. Diese Reduktion der Persönlichkeit ist freiwillig. Man kann Jess Shane in der Folge mit Ernesto weder fehlende Ethik noch Realitätsmanipulation vorwerfen. Wenn sich jemand selbst als Brand betrachtet, dann ist die Rolle, die er spielt, ja irgendwie authentisch. Gibt es im Zeitalter der digitalen Medien, der Deepfakes und Videofilter, in dem der Modus der Selbstinszenierung zum Alltag gehört, überhaupt noch eine klare Unterscheidung zwischen authentisch und künstlich? Und was ist die Aufgabe von Non-Fiction Autor*innen, wenn jede*r auf der Welt selbst Content produzieren kann? 

„ Vielleicht geht es darum, zu erkennen, dass in jeder Doku auch ein bisschen Fiktion steckt. Genauso wie in meiner Fiktion immer ein bisschen Doku. “

In der Podcast-Reihe von Jess Shane stellt sich heraus, dass dennoch nicht jede*er das Zeug zum Erzählen hat. Trotz seines Unterhaltungsbewusstseins wirkt Ernestos eigentlich interessante Geschichte generisch und austauschbar. Vermutlich, weil sich Jess, die professionelle Erzählerin, im Prozess zurückhält. Ich, die Apostelin des ethischen Erzählens, erwischte mich beim Zuhören immer wieder dabei, dass ich mir wünschte, Jess würde die Vorstellungen der Porträtierten links liegen lassen und stattdessen ihrer eigenen künstlerischen Intuition folgen. Da war zum Beispiel die Folge mit Judy, deren Lebensgeschichte mich besonders berührte. Sie hatte nach ihrer Scheidung im Rentenalter ihre Wohnung verloren und lebte nun als Seniorin auf der Straße. Judy bat die Reporterin, einen großen Teil ihres Interviews aus der Folge herauszuschneiden – den, wie Jess den Zuhörer*innen bedauernd mitteilte, interessantesten Teil. Was übrig blieb, waren vor allem trockene Details eines behördlichen Prozesses.

Während ich mich beim Zuhören langweilte, merkte ich: Jess und ich machen einen Denkfehler mit unserem Anspruch an dokumentarische Formate. Die „Dokumentation“ der Realität kann nie ganz objektiv sein, denn die Auswahl und Komposition des Materials folgt immer dem ästhetischen und narrativen Bewusstsein einer Person. Der Podcast demonstrierte mir: Wir brauchen Autor*innen wie Jess Shane, deren künstlerisches Verständnis uns die Welt auf besondere Weise nahebringt und Empathie schafft. Vielleicht liegt die Authentizität des Dokumentarischen gar nicht im fehlenden Eingriff, sondern im Bewusstsein darüber. Vielleicht müssen wir Zuhörenden und Dokumentierenden die Künstlichkeit jedes Dokuments anerkennen, um der Wirklichkeit gerecht zu werden. Vielleicht geht es darum, zu erkennen, dass in jeder Doku auch ein bisschen Fiktion steckt. Genauso wie in meiner Fiktion immer ein bisschen Doku.

Selbst wenn Menschen ihre Geschichte nach den eigenen Vorstellungen erzählen, wie es Jess mit ihrem Podcast versucht, garantiert das keine Authentizität. Das demonstrieren uns Medienplattformen wie Youtube, TikTok, Instagram und Co täglich. Vor Kurzem wurde die mormonische „Momfluencerin“ Ruby Franke, eine Mutter von sechs Kindern, die mit ihren Erziehungstipps und ihrer „Familienidylle“ 2,3 Millionen Abonnent*innen auf Youtube begeisterte, wegen Kindesmisshandlung schuldig gesprochen.

Gerade angesichts digitaler Plattformen, deren Wirtschaftsprinzip darauf basiert, uns immer stärker inszenierte, dramatischere, radikalere Versionen der Realität zu präsentieren, um unsere Aufmerksamkeit länger zu halten, werden Formate unentbehrlich, deren Reporter*innen einem journalistischen Kodex folgen, nach dem man keine Fehlinformationen verbreiten und das aufgezeichnete Material nicht bild- oder ton-manipulieren darf. Autor*innen, die zumindest versuchen, die Realität so faktisch und wahr wie möglich darzustellen. In einem Meer der Content-Creator brauchen wir Menschen wie Jess Shane, die Skrupel haben, die ihre Erzählstrategien ab und zu in Frage stellen und sich Gedanken um die Ethik und Authentizität der Dokumentation machen.

Julia von Lucadou ist Schriftstellerin. Zuletzt erschienen ihre Romane „Die Hochhausspringerin“ und „Tick Tack“ bei Hanser Berlin. Sie war für den Schweizer Buchpreis nominiert und wurde zur ersten Bonner Stadtschreiberin berufen. Sie lebt in Köln.