Magazin

Kolumne

„Ohne dich ist alles doof“

Illustration einer Umzugskiste mit Sachen darin
© Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Unser Kolumnist Julius Esser channelt seine innere Marie Kondo – und denkt über die Wegwerfgesellschaft nach.

– von Julius Esser

Bildrechte: © Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Hier schreiben im Wechsel Autor*innen aus dem Rheinland über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind. Heute: Julius Esser

Licht fällt ein. Mein Blick geht in den Garten hinaus. Nach der klirrenden Kälte der letzten Wochen wagen sich nun sehr feine Sonnenstrahlen durch die Fenster in meine Wohnung. Ich schließe die Augen und atme die angewärmte Luft tief ein – und, mit einem schweren Seufzer, in das vor mir liegende Chaos wieder aus. Denn während draußen die zwitschernden Blaumeisen zwischen den noch kahlen Ästen der Magnolie ihren Frühjahrputz beginnen, sitze ich zwischen Bergen von Kartons, Aktenordnern und Papierstapeln. 

Weder Umzug noch Renovierung zwingen mich zu diesem Martyrium, vielmehr die all(früh)jährliche Aussage: Wir könnten ja mal was aussortieren

Frei nach Marie Kondo wird daher jeder Schrank und jede Kommode gesichtet, ausgeräumt, sortiert und Übriggebliebenes entsorgt. Was keine Verwendung hat oder mich nicht glücklich macht – fliegt raus. Klingt simpel! Entsorgung einfach wörtlich nehmen: Ent-Sorgen, also freimachen von ausrangierten Gegenständen oder sinnfrei angesammeltem Nippes. Das hat man mir jedenfalls gesagt! 

Und irgendwie scheint etwas Wahres dran zu sein: Wenn ich den Blick durch meine vier Wände schweifen lasse, fällt mir auf, an wie vielen Dingen negative Gedanken oder gescheiterte Vorhaben hängen. Das reparier ich noch irgendwann … oder Das gehört zu dem einen Gerät, wo der Deckel fehlt. Den muss ich aber nochmal besorgen … irgendwann. Wie viele Papiere hier hätten schon lange abgeheftet werden müssen? Sind wir mal ehrlich, das könnte alles weg.

So stehe ich vor ebenjenem Mount Watwillischdomit und möchte mich befreien, doch fällt es mir ungeahnt schwer. Grund dafür ist mein neunjähriger Neffe, der mir beim Aussortieren „hilft“, indem er aus den Trümmern meiner Wegwerforgie die unnützesten Teile wieder herausklaubt und mich bei jedem Gegenstand erbost wie erstaunt anraunzt:

Das hier jetzt aber nicht wegschmeißen – das kann man noch gebrauchen!

„ Warum hast du das überhaupt gekauft, wenn du es nie brauchst und dann wegschmeißt? “

Nun stelle ich mir selbst diese Frage: Kann man diese Dinge wirklich noch gebrauchen? Welchen PC mit CD-Laufwerk könnte ich auftreiben, um noch einmal die Goldedition I der Drei ??? für Windows 7 und MAC OS X mit zusätzlichen Bildauflösungen“ zu spielen? An welchem Partyabend fänden die Audio-Kassetten von Roger Whitaker und Eugen Cicero noch mal Verwendung? Wo genau hänge ich mir denn jetzt den ausgebleichten Kunstdruck von Max Ernst auf, weil der Rahmen ja noch gut ist?

Andererseits, irgendwo hat er recht. Einiges ist quasi wie neu: die eingeschweißte Spindel mit den 700-MB-CD-Rohlingen beispielsweise oder die noch nie benutze Kaffeetasse mit dem fetzigen Aufdruck „Ohne dich ist alles doof“. Funktioniert schließlich noch einwandfrei. 

Doch was soll ich ihm sagen? Wenn etwas selbst in dem „Zu verschenken“-Karton vor meiner Haustür keine Abnehmer mehr findet – kann es dann nicht einfach mal in den Müll? Wie erkläre ich ihm, dass man die originalverpackten Fondue-Teller wirklich nie, nie mehr brauchen wird? 

Warum hast du das denn überhaupt gekauft, wenn du es nie brauchst und dann wegschmeißt?

Und an diesem Punkt gebe ich ihm schließlich recht. Warum machen wir das? Haben wir das Gleichgewicht zwischen Konsum und Überfluss verloren? Warum finden wir es okay, ja: teilweise sogar befreiend, Dinge wegzuschmeißen? Als Wochenendbeschäftigung, und das in einer Welt, die nach Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz schreit. Ich versuche meine Gedanken zu bündeln. Dann nehme ich ein altes Geburtstagsgeschenk aus dem Regal und fange an: 

Weißt du, wir leben in einer Gesellschaft, in der es üblich ist, dass wir zum Geburtstag ein Porzellan-Sparschwein mit unserem Gesicht drauf geschenkt bekommen. Dieses bewahren wir anstandshalber jahrelang auf, auch wenn wir es hässlich finden. Wir befüllen es nie, denn wenn wir dann mal an den Notgroschen wollten, müssten wir das Schwein zerschlagen. Das wäre zu schade. Deswegen räumen wir es irgendwann in den Keller, bis wir es schließlich mit den Worten: „Das kann jetzt aber endlich mal weg“ in den Müll schmeißen – ohne jemals mit dem Hammer draufgeschlagen zu haben. Und dann fühlen wir uns wieder gut.

Das macht ja gar keinen Sinn!

Hm. Stimmt.

Wir beide schweigen.

Ein paar Stunden später ist es geschafft. Meine Schränke sind wieder eingeräumt, die Schubladen sortiert und die Regalbretter befreit. Ich atme zufrieden ein. Endlich wieder Luft. Dieses Ent-Sorgen funktioniert. Ich fühle mich fast so vogelfrei, wie die Blaumeise auf ihrem kahlen Ast. Und auch, wenn ich weiß, dass Fondue-Teller eigentlich nichts im Kinderzimmer meines Neffen verloren haben, ist es doch schön zu wissen, dass es immer Menschen gibt, die den Wert der eigentlich verlorenen Dinge erkennen und zu schätzen wissen. Ob sie ihn dann wirklich glücklich machen, ist noch mal ein ganz anders Thema.

Julius Esser ist Dichter, Autor und Slam Poet aus Euskirchen. Er war mehrfach Finalist bei den Landesmeisterschaften im Poetry Slam und ist seit 20 Jahren auf Theater-, Musik- und Kleinkunstbühnen zu Hause.