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Kolumne

Hallo Nachbar!

Ein Männchen steht auf einer Insel
© Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Vielerorts sterben Nachbarschaften. Paradebeispiel ist Venedig. Melanie Raabe überlegt, ihre eigene wiederzubeleben.

– von Melanie Raabe

Bildrechte: © Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Hier schreiben im Wechsel Christian Bartel, Juliana Kálnay und Melanie Raabe über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind.

Aktuell bereite ich mich auf einen mehrmonatigen Studien- und Schreibaufenthalt in Venedig vor. Ich wühle mich durch Sachbücher und Zeitungsartikel, lese Blogs und Instagram-Posts, schaue Dokus und konsumiere Reise-Podcasts. In einem solchen hörte ich zum ersten Mal den Satz, der mir fortan in Variationen immer wieder begegnen sollte: „Venedig ist Opfer seiner eigenen Schönheit.“

Man ahnt, was damit gemeint ist: Venedig ist überlaufen, und das bringt Probleme mit sich. Der Stadtkern hat nur noch knapp 50.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Doch pro Jahr kommen mehrere Millionen zu Besuch. Hauptsächlich sind es Personen auf Tagestouren, die die Stadt überschwemmen, die Zahl der Übernachtungsgäste ist vergleichsweise niedrig. Tatsächlich ist es, nach allem, was ich gelesen habe, jedoch nicht so sehr die schiere Zahl an Urlauberinnen und Urlaubern, die den Einheimischen das Leben schwer macht, die verstopften Gassen, der Müll. 

Das Problem, das Venedigs Schönheit mit sich bringt, reicht viel tiefer. Paradoxerweise scheint es vor allem die Einsamkeit zu sein, die alteingesessene Venezianerinnen und Venezianer bedrückt. Die Tatsache, dass viele Wohnungen und ganze Palazzi in Venedig von Investoren aus dem In- und Ausland oder von wohlhabenden Fremden aufgekauft wurden, zersetzt ihre Gemeinschaft. Schließlich ist es schwierig, eine funktionierende Nachbarschaft mit Plausch im Treppenhaus, gegenseitiger Hilfsbereitschaft und Aufeinander-achten zu erhalten, wenn nebenan nur noch Airbnbs sind, deren Bewohnerschaft alle paar Tage wechselt. Oder die Wohnungen von reichen Leuten aus Mailand, München, Paris oder Schanghai, die fünfzehn Tage im Jahr in Venedig verbringen und deren Wohnung den Rest der Zeit leer steht. Der Dokumentarfilm „I Love Venice“ aus dem Jahr 2013 erzählt davon, wie die Venezianerinnen und Venezianer vereinsamen, während um sie herum Menschenmassen sind.

„ Es tut gut, den Barista mit Namen zu kennen “

Verloren gegangene Gemeinschaft, das ist natürlich kein rein venezianisches Problem. Neulich berührten mich Berichte aus Island. Zahlreiche Erdbeben scheinen dort den Ausbruch eines Vulkans anzukündigen, die Stadt Grindavík wurde vorsorglich evakuiert. Es ist aus vielerlei Gründen schlimm, dass so viele Menschen ihr Zuhause verlassen müssen, ohne die Gewissheit, irgendwann zurückkehren zu können. Doch wie mir eine Freundin berichtete, die viel Zeit in Island verbringt, sei die größte Sorge der Bewohnerinnen und Bewohner des Ortes nicht materieller Natur. Vielmehr sorge man sich um das Ende der gemeinschaftlichen Strukturen. Was, das sei der vorherrschende Gedanke, wenn wir in alle Winde verstreut werden? Das sei doch die eigentliche Katastrophe. Kluge Leute!

Nachdem ich mich mit diesen Berichten aus Venedig und Grindavík befasst habe, kam ich nicht umhin, mir Gedanken über mein eigenes nachbarschaftliches Verhalten zu machen. Denn von dem, was die alten Venezianerinnen und Venezianer damit meinen, wenn sie von einem regen Sozialleben in ihrer Nachbarschaft sprechen, bin ich sicher meilenweit entfernt. Meinen Freundinnen und Freunden geht es nicht anders, und im Internet häufen sich Berichte von Stadtmenschen, die, wenn sie eben den Müll runterbringen wollen, aber Geräusche im Treppenhaus hören, lieber fünf Minuten warten, statt ihren Nachbarn zu begegnen.

Ich habe also beschlossen, mir mehr Mühe zu geben. Daheim ebenso wie während meiner Zeit in Venedig. Denn ich glaube ich fest daran, dass es guttut, den Barista, der einem morgens den Cappuccino macht, mit Namen zu kennen, und gute Kontakte zur Nachbarschaft zu pflegen. Auch wenn man die Eier, die man sich früher vielleicht von einer freundlichen Nachbarin „geliehen“ hätte, heute längst auch sonntags 24 Stunden am Tag irgendwo einkaufen kann.

Melanie Raabe lebt in Köln, zieht aber bald nach Venedig. Für den Fall, dass ihre Nachbarn sonntags spontan Kuchen backen wollen, hält sie stets einen kleinen Vorrat an Butter und Eiern bereit, den man sich jederzeit „ausleihen“ könnte.