Magazin

Kolumne

Die Strullkötters, Überdicks und Wimmelbückers von nebenan

Ein Männchen steht vor einem Monster mit acht Augen
© Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Unser Kolumnist Christian Bartel denkt zurück an falsche und echte Monster aus der ostwestfälischen Fremde seiner Oma.

– von Christian Bartel

Bildrechte: © Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Hier schreiben im Wechsel Christian Bartel, Juliana Kálnay und Melanie Raabe über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind.

Die meisten Kinder glauben an Ungeheuer. Bei mir war das anders. Ich wusste ganz genau, dass sie existieren. Ich wusste sogar, wo die Ungeheuer wohnen: bei meiner Oma in 4930 Detmold, Ostwestfalen-Lippe. Menschen wohnten dort jedenfalls nicht. Die hießen schließlich Schmitz, Müller oder Bartel. In der Siedlung meiner Oma standen dagegen Namen auf den Briefkästen, die nur auf Fabelwesen passten.

Es gab dort Grügelschnieder und Schneckendiller, einen Schwengelbeck und ein Kluckhuhn, während ein paar Häuser weiter die Wimmelbücker hausten. Daran schlossen sich Wohnstätten der Überdicks, der Söterbeinings, Großebrummels, Schluckebiers und Strullkötters an. Bei den Schluckebiers wohnte ein Kuhfuß als Untermieter, was mich ungemein irritierte. So ein Kuhfuß hätte doch wenigstens an den Beinings der Söter hängen müssen.

Ich wechselte die Straßenseite, wenn ich an der Hütte der Strullkötter vorbeimusste. Ich stellte sie mir als inkontinente Bluthunde vor, die ihren Opfern auf den Teppich pieselten, während sie sie zerfleischten.

Allerdings bekam ich all diese Geschöpfe nie zu Gesicht, aber dazu hatte ich eine Theorie. Meine Oma war eine Art Wildhüterin, die dafür sorgte, dass die Ungeheuer nicht aus ihren Häusern ausbüxten. Wenn wir unseren nachmittäglichen Gang durch die Siedlung machten, trafen wir nur alte Leute, die uns freundlich zunickten, und das konnten ja kaum wilde Strullkötter oder unheimliche Wimmelbücker sein.

Bevor wir zur Patrouille aufbrachen, zog meine Oma stets ihren feinen Seehundpelz an und setzte den Hut mit der Fasanenfeder auf. Ich hielt diese Aufmachung für ihre Wildhüter-Uniform und stattete mich ähnlich aus, trug also ein ausgemustertes Kapotthütchen und einen geblümten Hausmantel, den meine Oma nur an kalten Winterabenden brauchte.

„ Ich wusste, dass mein Opa in Stalingrad geblieben war, hatte aber keine Ahnung, was ein Stalingrad überhaupt war. Ich vermutete, dass er in einer Kneipe dieses Namens versackt war. “

In dieser Aufmachung paradierten wir durch die Siedlung, während ich den Erklärungen meiner Großmutter lauschte. Allerdings vertieften sie mein Missverständnis bloß. Meine Oma war als Ostwestfälin von der Natur zur Wortkargheit verdammt. Fragen beantwortete sie grundsätzlich mit einem einzigen kurzen Satz, aus dem sie kunstfertig jeden Kontext getilgt hatte.

So wusste ich zum Beispiel, dass mein Opa in Stalingrad geblieben war, hatte aber keine Ahnung, was ein Stalingrad überhaupt war. Natürlich hatte ich auch dazu eine Theorie entwickelt. Ich vermutete, dass der Opa in einer Kneipe dieses Namens versackt war und eines Tages angeheitert wieder auftauchen würde. Denn dass Männer auf unbestimmte Zeit in Kneipen verblieben, während Frauen und Kinder nach Hause geschickt wurden, hatte ich schon herausbekommen.

Ich musste mir also einiges über die ostwestfälische Nachkriegswelt meiner Oma selbst zusammenreimen, zumal sie in der Auswahl der Fakten sehr eigen war. „Die Großebrummel hat bloß noch ein gutes Auge“, erklärte sie mir und zeigte auf das entsprechende Haus. Ich fragte mich natürlich, wie viele gute Augen eine Großebrummel normalerweise hatte. Da ich eine Verwandtschaft der Spezies zu Spinnentieren vermutete, tippte ich auf acht.

„Dem Kuhfuß haben sie das Bein weggeschossen“, informierte mich meine Oma beim nächsten Haus. Das erschien mir logisch. Irgendwie musste der Fuß ja von der Kuh abgegangen sein.

„Die Wimmelbücker haben zu tief ins Glas geschaut“, erklärte meine Oma, als wir an dem Bungalow mit heruntergelassenen Jalousien vorbeigingen. Abends verschüttete ich meinen Saft, weil ich vor Angst, auch ein Wimmelbücker zu werden, nicht mehr in mein Glas gucken konnte.

Einmal trafen wir einen alten Mann im grünen Lodenmantel. Wie immer, wenn ich mit meiner Oma auf Streife ging, trug ich Hütchen und Hausmantel. Dem Loden-Mann schien meine Uniform aber nicht zu gefallen. „Früher hätte es das nicht gegeben“, grollte er.

Meine Oma fasste nach meiner Hand und zog mich eilig weg. Als wir außer Hörweite des Lodenmannes waren, fragte ich, ob wir gerade ein Ungeheuer gesehen hätten. „Unsinn. Das war bloß ein alter Nazi“, antwortete sie. Obwohl ich damals noch nicht wusste, was ein Nazi war, schenkte ich meiner Oma keinen Glauben. Ich erkannte doch ein Ungeheuer, wenn ich eins sah.

Christian Bartel (*1975) ist ein Bewunderer ostwestfälischer Namenspracht. Die Lipper Oma und die Nachnamen in dieser Kolumne sind weitgehend verbürgt, die Handlung eher nicht.