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Kolumne

Kreis­lauf­probleme im Stadtverkehr

Arterien, auf denen eine Straßenbahn fährt
© Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Unsere Kolumnistin Juliana Kálnay untersucht die Arterien des ÖPNV und übt sich unfrewillig in der Kunst, sich zu verlieren.

– von Juliana Kálnay

Bildrechte: © Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Hier schreiben im Wechsel Christian Bartel, Juliana Kálnay und Melanie Raabe über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind.

Seit einiger Zeit sieht man an Kölner Stadtbahnen und Bussen den aufgeklebten Schriftzug #HerzschlagderStadt. Mir gefällt das Bild der Stadtbahngleise und Busstrecken als urbanes Geflecht von Arterien, Venen und Kapillaren, das damit einhergeht. Es entspricht meiner Art, mich durch eine Stadt zu bewegen. Ich besitze kein Auto und bin keine geübte Fahrradfahrerin. Wenn ich jemanden mit dem Auto durch eine Stadt lotsen soll, misstraue ich meinem Orientierungssinn. Habe weder Einbahnstraßen noch Parkmöglichkeiten im Blick.

Für alles, was sich nicht fußläufig erreichen lässt, steige ich in eine Bahn, für die ganz andere Wege und Regeln gelten. Auch wenn ich eine neue Stadt besuche, verschaffe ich mir gern mit einem Blick auf den Liniennetzplan Orientierung. Merke mir Knotenpunkte, die Namen der Haltestellen in der Nähe der Orte, an denen ich mich aufhalten werde und ihre grobe Position.

Im Juni fuhr ich für ein Wochenende in eine Stadt außerhalb des Rheinlands, um dort ein Literaturfestival zu besuchen. Die Stadt hatte mit 101.667 Einwohner*innen nur knapp Großtadtstatus und ich kannte sie gut, hatte ich doch selbst fünfeinhalb Jahre dort gelebt und studiert. Damals hatte ich nahezu im Schlaf gewusst, welche Buslinie zur Universität fuhr, welche zum Bahnhof (nicht, dass so viele zur Auswahl gestanden hätten) und wie diese getaktet waren.

Nun blickte ich nach meiner Ankunft am Hbf jedoch auf die Busfahrpläne und war verwirrt: Nicht mehr die 3 fuhr zur Universität, sondern die 1, während die neue 3 Haltestellen abfuhr, die zuvor nur von einer Regionalbuslinie erreicht worden waren. Die einstige Umsteigehaltestelle in der Innenstadt, an der sich zuvor alle Linien getroffen hatten, wurde nur noch von zwei Linien angefahren und die Haltestelle „Museum“ gar nicht mehr.

Vor ein paar Jahren hätte man die Busstrecken verändert, erklärte mir später eine Freundin, die noch in der Stadt wohnte. Zudem habe man in der Innenstadt eine 850 Jahre alte Brücke ausgegraben, und solange nicht entschieden sei, was mit dieser geschehen solle, würden die neuen Linien auf wiederum neue Wege umgeleitet. Das Orientierungssystem, das ich einmal für diese Stadt besessen hatte, schien nicht mehr auf ihre Gegenwart zu passen.

„ Die Wege durch die Stadt erschienen mir so neu und fremd, als würde ich dem Streckenverlauf der Las Vegas Monorail durch meine Studienstadt folgen. “

In A Field Guide to Getting Lost (dt. Die Kunst, sich zu verlieren) schreibt Rebecca Solnit, dass sich die Stadt Las Vegas so schnell verändere, dass jeden Monat eine neue Straßenkarte gedruckt werden müsse. Unter den in Deutschland erhältlichen Las-Vegas-Reiseführern mit Stadtkarte finde ich keinen, der nach 2022 aufgelegt worden ist. Wie groß mag die Differenz dieser Karten zur gegenwärtigen Topografie der Stadt sein? Handelt es sich bei Solnits Aussage um eine Übertreibung oder gar um ein Gerücht? Oder ließen sich mit nur wenige Jahre alten Karten von Las Vegas tatsächlich Erkundungen ähnlich des von Alexander Kluge beschriebenen Cross-mappings betreiben? Eine Praxis, bei der man unterschiedliche Systeme miteinander kollidieren lässt und etwa mit einer Stadtkarte von London durch den Harz wandert.

Ich war noch nie in Las Vegas, aber während ich mit dem Bus durch die Stadt fuhr, in der ich vor nicht einmal zehn Jahren noch gelebt hatte, erkannte ich zwar die Straßen und Gebäude, doch die Wege durch die Stadt erschienen mir so neu und fremd, als würde ich dem Streckenverlauf der Las Vegas Monorail durch meine Studienstadt folgen. Als hätte man ihr Kreislaufsystem umgekrempelt, pulsierte ihr Herz in einem mir unbekannten Takt.

Ich erinnere mich, dass gegen Ende meines Studiums der Nachtbusfahrplan ausgeweitet wurde, sodass die Menschen, die im Landkreis um die Stadt wohnten, am Wochenende auch zu später Stunde noch mit dem Bus nach Hause fahren konnten. Damals lief einer der Filme der „Twilight“-Reihe im Kino und man bewarb die neuen Regionalnachtbuslinien mit Plakaten, auf denen glitzernde Vampirgesichter abgebildet waren und etwas wie „Bis(s) zu dir nach Hause“ zu lesen war. In jedem Fall erinnere ich mich an ein Gespräch, in dem jemand bemerkte, man habe es bei dieser Steilvorlage versäumt „Bus zum Morgengrauen“ zu texten.

Der Nachtlinienverkehr innerhalb der Stadt blieb trotz allem verbesserungswürdig, und an Sonn- und Feiertagen fuhren den ganzen Tag über nur die Nachtbuslinien im Halbstundentakt. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass sich das Angebot seit damals verschlechtert haben könnte, doch dann stellte sich heraus, dass der letzte Bus um 23:30 Uhr durch die Innenstadt fuhr.   

Es gebe einfach zu wenige Busfahrer, sagte der Fahrer des Taxis, das wir zu unserer Unterkunft nehmen mussten, da wir den letzten Bus natürlich verpasst hatten. Man habe die Fahrpläne reduzieren müssen. Es sei aber auch ein undankbarer Job, der nicht gut bezahlt werde. Er fahre lieber Taxi.

Während wir durch die nächtliche Stadt kurvten, erkannte ich einzelne Straßenzüge wieder. Andere Straßen passierte ich nun zum ersten Mal. Würden wir vor unserem Ziel anhalten und aussteigen, war ich mir sicher, den Weg zu unserer Unterkunft oder zurück in die Innenstadt ohne Hilfe niemals finden zu können.

Walter Benjamin schrieb in Berliner Kindheit um Neuzehnhundert, es brauche Schulung, um sich in einer Stadt so verirren zu können wie in einem Wald. Damit man sich in einer einst bekannten Stadt nicht mehr zurechtfindet, reicht es jedoch offensichtlich schon, gelegentlich das ÖPNV-Liniennetz umzuorganisieren.

Juliana Kálnay hat ein Fahrrad im Keller, das nur wenig von Köln gesehen hat. Dafür hat sie seit dem 1. Mai ein Deutschland-Ticket im Portemonnaie und muss von ihrer Wohnung aus nur 120 Meter bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle laufen.