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Kolumne

Wenn Kunst Berge versetzt

Männchen trägt einen Berg
© Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Unsere Kolumnistin Juliana Kálnay lässt sich von einer Ausstellung hoffnungsvoll stimmen.

– von Juliana Kálnay

Bildrechte: © Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Hier schreiben im Wechsel Christian Bartel, Juliana Kálnay und Melanie Raabe über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind.

Über den gläsernen Schiebetüren der ehemaligen Opelwerkstatt prangt in Großbuchstaben der Schriftzug „VERKAUF“. Dahinter erwarten mich jedoch keine ausgestellten Automodelle. Stattdessen muss ich aufpassen, nicht über den verrenkten und gesichtslosen Pferdekörper am Boden zu stolpern. Es handelt sich um eine Skulptur von Berlinde de Bruyckere.

Gegenüber einer Autowaschanlage und mitten in der Autohaus- und Pkw-Servicemeile hinter dem Kölner Melatenfriedhof war es im Spätherbst vier Wochen lang möglich, eine Pop-Up-Ausstellung zu besuchen, die in einer Kooperation des PinchukArtCentre in Kiew und des Museum van Hedendaagse Kunst Antwerpen Arbeiten von zeitgenössischen ukrainischen und flämischen Künstler*innen miteinander in Resonanz brachte.

So stehe ich vor einem Gemälde von Lesia Khomenko, das die Figuren dreier Soldaten mit unkenntlichen Gesichtern zeigt. Auch die Waffen, die sie tragen, lassen sich nur erahnen, sie werden mit einem diagonalen Farbstreifen verdeckt. Aus Sicherheitsgründen ist es in der Ukraine verboten, Fotos zu machen und zu teilen, auf denen Truppenmitglieder, militärische Ausrüstung oder ihre Standorte identifiziert werden können. Khomenko sammelt die daher verpixelten und anderweitig digital verfremdeten Bilder des Krieges, die in den sozialen Medien auftauchen, übersetzt sie in Gemälde und fügt ihnen damit eine weitere Entfremdungsebene hinzu.

Während ich das Bild betrachte und darüber nachdenke, was es bedeutet, wenn Soldat*innen so abgebildet werden, dass sie nicht mehr anhand ihrer Gesichter als Individuen erkennbar sind, legt sich im Hintergrund ein rhythmisch-metallisches Scharren über meine Gedanken. Das Geräusch stammt aus einem Video, das auf die gegenüberliegende Wand projiziert wird und auf dem eine unüberschaubare Anzahl von nebeneinanderstehenden Menschen in weißen T-Shirts gleichzeitig ihre Schaufeln in den sandigen Boden stoßen. Es zeigt die Dokumentation einer Perfomance mit dem Titel „When Faith Moves Mountains“, die Francis Alÿs gemeinsam mit 500 Freiwilligen 2002 bei der Ibero-Amerikanischen Biennale von Lima realisierte. Ihr Ziel war es, in einer gemeinsamen Kraftanstrengung einen Berg um zehn Zentimeter zu versetzen.

„ Die Arbeit strahlt gleichzeitig etwas Hoffnungsvolles, aber auch Vergebliches aus. “

Obwohl ein Sprichwort biblischen Ursprungs besagt, dass der Glaube oder Wille in der Lage ist, Berge zu versetzen, stellt man sich das wortwörtliche Versetzen eines Berges allein durch den Einsatz menschlicher Körperkraft und Schaufeln als etwas kaum zu Bewältigendes vor. Fairerweise muss man sagen, dass es sich bei dem „Berg“ in diesem Fall um eine Sanddüne von etwa 500 Metern Durchmesser handelt, was das ganze Vorhaben zwar etwas weniger unmöglich, aber zumindest nach einer ziemlichen Sisyphusarbeit klingen lässt. Ob der „Berg“ nach der geballten Anstrengung tatsächlich um zehn Zentimeter verrückt steht, ist am Ende des etwa 15-minütigen Videos nicht zu erkennen, doch die Freiwilligen klatschen und jubeln in die Kamera, die Aufgabe scheint geglückt. Dennoch habe ich bei der Betrachtung den Eindruck, dass diese Arbeit gleichzeitig etwas Hoffnungsvolles, aber auch Vergebliches ausstrahlt: Etwas, das zunächst unmöglich schien und es für eine einzelne Person wohl auch gewesen wäre, konnte durch den vereinten Einsatz und die Zusammenarbeit der 500 Freiwilligen bewältigt werden.

Doch die ganze Aktion hat auch etwas von langsam mahlenden Mühlen: Trotz der investierten Kräfte ist das Ergebnis mit bloßen Auge nicht zu erkennen und vielleicht auch gar nicht nachprüfbar. „Maximaler Aufwand, minimales Ergebnis“, lautet ein Credo des Künstlers, von dem ich mir später auf Youtube weitere Perfomancedokumentationen ansehe: 1997 schob Alÿs unter dem Titel „Sometimes Making Something Leads to Nothing“ einen Eisblock durch Mexiko City, bis dieser geschmolzen war, und wenige Jahre später fuhr er in „The Rehearsal“ zu musikalischer Begleitung ein Auto einen Sandhügel in Tijuana hinauf, auf dessen anderer Seite sich die Grenze zur USA befand. Doch immer, wenn die Band aufhörte zu spielen, nahm Alÿs den Fuß vom Gas und das Auto rollte auf dem Sandweg wieder in die Ausgangsposition zurück.

Wer weiß, wie viel Zeit, Schaufeln und helfende Hände benötigt worden wären, um den Berg in Lima, gemäß eines anderen Sprichworts, tatsächlich zum Propheten zu bewegen – sofern sich dieser nicht gerade an seinem Fuß platziert hat. Und dann ist da noch die Unbeständigkeit des Sandes, der von Wind, Wetter und denjenigen, die sich auf ihm bewegen, herumgewirbelt und abgetragen wird. Vielleicht wäre ein kräftiger Sturm in der Lage, die Düne noch weiter zu versetzten als 500 Freiwillige mit Schaufeln?

Doch dann rufe ich mir ins Gedächtnis, dass ein Teil dieser Ausstellung im Juni 2022 in Kiew gezeigt wurde, obwohl kein Versicherungsträger die Leihgaben aus Antwerpen gegen das Risiko von Kriegsschäden versichern wollte und dass sowohl die städtische Nutzungsgenehmigung als auch die Zusagen für die Finanzierung der erweiterten Ausstellung in Köln erst wenige Wochen vor Eröffnung erfolgten, und denke mir, dass eine Arbeit, die das Bergeversetzen im Titel trägt, im Kontext dieser Ausstellung nicht anders als hoffnungsvoll gelesen werden kann.

Juliana Kálnay hält sich aufgrund der Einsturzgefahr nicht gerne in der Umgebung von Sandburgen und anderem auf und aus Sand Gebautem auf, ist jedoch bereit, sich vom Gegenteil überzeugen zu lassen, zumal sie nun gemerkt hat, dass auch ehemalige Autohäuser für die ein oder andere Überraschung gut sind.