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Kolumne

Fürchtet euch sehr!

Illustration einer großen Spinne, die vor einem Männlein steht
© Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Wer keine Angst kennt, dem geht es besser, dachte unsere Kolumnistin Melanie Raabe stets. Bis sie von einer sehr besonderen Frau erfuhr.

– von Melanie Raabe

Bildrechte: © Nadine Redlich für Literatur Rheinland

Hier schreiben im Wechsel Christian Bartel, Juliana Kálnay und Melanie Raabe über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind.

Was für Zeiten! Die Dinge spitzen sich zu, die Nachrichtenspalten sind voller Schreckensmeldungen, und die Kolumnen und Kommentare werden immer emotionaler. Während zu anderen Zeiten die Emotion Wut das bestimmende Thema war, ist es nun die Angst. Oder der Aufruf, ihr zu entsagen. „Wir dürfen uns keine Angst machen lassen“, las ich neulich mal wieder. Da ging es um Putins Theater des Schreckens, um mögliche Atomschläge, um Joe Bidens Rede vom „Armageddon“.

Wie wohl die meisten Menschen finde auch ich dieses „Lasst euch nicht einschüchtern!“ erst einmal plausibel und vor allem sympathisch. Weg mit jeglicher Angst, diesem hinderlichen evolutionären Überbleibsel! Menschen, die Angst haben, tun dumme Dinge! Wer keine Angst kennt, dem geht es besser. Dachte ich immer. Bis ich in einem Podcast von der Frau ohne Angst hörte.

Sie ist nicht in irgendeinem metaphorischen Sinne furchtlos, sondern sie kennt buchstäblich keine Furcht. Ihr Gehirn ist aus komplexen medizinischen Gründen schlicht nicht in der Lage, diese Emotion zu produzieren. Als man sie fragt, was Angst sei, antwortet sie: „Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung.“

Nun könnte man meinen: kein großer Verlust, sie muss ein wunderbares Leben haben. Aber dem ist nicht so. Ihr zerstörtes Angstzentrum ist eine ernste Behinderung und hat sie schon oft in Gefahr gebracht.

Tatsächlich erinnert sie sich noch daran, dass sie früher einmal Angst vor gefährlichen Tieren hatte, auch wenn sie das heute nicht mehr nachvollziehen kann. Als ihr die Forschenden, die sich mit ihrem Fall befassten, derartige Tiere vorsetzten, in der Hoffnung, eine Reaktion auszulösen, bekam sie keine Angst, sondern ihre natürliche Neugier übernahm. Mit dem Ergebnis, dass die Forschenden sie davon abhalten mussten, giftige Tiere anzufassen.

„ Wie oft wurden wir mit unseren intakten Amygdalas schon mal mit einem Messer bedroht? “

Hier wird schnell klar, wo der evolutionäre Gewinn der Angst liegt. Wer in früheren Zeitaltern keinerlei Vorsicht walten ließ und keine Angst kannte, hat sicher nicht lange überlebt. Heute hingegen, könnte man meinen, begegnen jedoch die wenigsten in unserem Kulturkreis potenziell tödlichen Gefahren wie giftigen Skorpionen oder hungrigen Säbelzahntigern, und angstfrei zu sein wäre eigentlich ganz prima. Oder?

Nun, die Geschichte der Frau ohne Angst lehrt uns das Gegenteil.

Wie oft wurden wir mit unseren intakten Amygdalas schon mal mit einem Messer bedroht? Die Chancen stehen sehr gut, dass die Antwort „Noch nie!“ lautet – und dass das auch ein Leben lang so bleibt. Wir gehen gefährlich wirkenden Fremden automatisch aus dem Weg.

Bei der Frau ohne Angst ist das anders. In ihrem Interview beschreibt sie ein Ereignis, das für die meisten Menschen traumatisch gewesen wäre: „Ich war unterwegs zu einem Laden, und ich sah diesen Mann, der auf einer Parkbank saß. Er sagte: Komm mal her bitte. Also bin ich zu ihm gegangen. Ich habe gesagt: Was brauchen Sie? Er hat mich bei meinem Shirt gepackt, mir ein Messer an die Kehle gehalten und gesagt, dass er mich aufschlitzen werde. Ich habe ihm gesagt: Na los, tu's. Und dann habe ich gesagt: Ich komme zurück und ich jage dich. Ich hatte keine Angst. Aus irgendeinem Grund hat er mich gehen lassen. Und ich bin nach Hause gegangen.“

Tatsächlich ist das nicht das einzige Mal, dass ihr dergleichen passiert ist. Sie wurde noch ein weiteres Mal mit einem Messer bedroht – und zwei Mal mit einer Schusswaffe!

Auch wenn es zunächst vielleicht nicht so klingt: Die Frau ohne Angst ist intelligent, sie weiß, dass eine hochgiftige Schlange oder ein gewaltbereiter, bewaffneter Mann sie töten könnten. Sie weiß, was Gefahr ist. Aber ihr fehlt die automatische Reaktion darauf. Die, die durch Angst ausgelöst wird und scheinbar durch nichts zu ersetzen ist. Wie sich also herausstellt, tun Menschen, die keine Angst haben, erst recht dumme Dinge.

Melanie Raabe fürchtet sich nicht nur vor realen Schreckensszenarien, sondern auch vor Clowns, was in ihrer karnevalistischen Wahlheimat Köln bisweilen zu Schwierigkeiten führt.