Magazin

Kolumne

Höflichkeit rettet die Welt

Zwei Figuren geben sich die Hand.
© Nadine Redlich

Melanie Raabe über die Kunst des japanischen omotenashi, die uns allen das Leben erleichtern kann.

– von Melanie Raabe

Bildrechte: © Nadine Redlich

Hier schreiben im Wechsel Christian Bartel, Juliana Kálnay und Melanie Raabe über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind.

Neulich war es überall zu lesen. „Im Herbst leben auf der Erde acht Milliarden Menschen“, titelte beispielsweise das Redaktionsnetzwerk Deutschland. Acht Milliarden! Für alle, die in Sachen Mathematik ähnlich herausgefordert sind wie ich, zur Erinnerung: eine Milliarde, das sind tausend Millionen. Das muss man erst mal einen Moment lang sacken lassen.

Als ich zu Beginn der achtziger Jahre geboren wurde, betrug die Weltbevölkerung rund viereinhalb Milliarden. Und, Funfact: Das Wachstum hat sich zwar verlangsamt, aber laut Prognosen wird 2090 dennoch ein Höchststand von 10,42 Milliarden erreicht werden.

Mich haut es immer wieder um, wenn ich mir die Zeit nehme, mir bewusst zu machen, wie viele wir tatsächlich sind – und was das bedeutet. Zum einen finde ich diese Zahl poetisch. Acht mal tausend Millionen Menschen, jede und jeder von ihnen ein Universum. Mit Gedanken und Gefühlen, Wünschen und Hoffnungen, Siegen und Niederlagen, Erfahrungen und Enttäuschungen, mit Eltern und Freund*innen und Lieben und allem, was zum Menschsein dazugehört. Zum anderen wird selbst mir, die ich ein enorm privilegiertes Leben führe, immer wieder bewusst, wie voll unser Planet schon jetzt ist. Um Ressourcenmangel und Klimawandel soll es hier gar nicht gehen, die Probleme, vor denen wir stehen, kennen oder erahnen wir vermutlich alle.



Ich denke, nachdem ich diesen Sommer ein wenig gereist bin, über ein ganz anderes Thema nach: über Höflichkeit. Ich glaube, sie könnte uns retten.

„ Je mehr wir sind, desto wichtiger ist es, dass wir einander behandeln wie hochgeschätzte Gäste. “

Neulich war ich unterwegs auf einem Langstreckenflug. Langstreckenflüge in der Economy sind anstrengend. Alle haben extrem wenig Platz, jeder Zentimeter zählt (ein bisschen so, als würde man acht Milliarden Menschen auf einen kleinen blauen Erdball quetschen). Je voller es ist, so versuche ich mir dann jedes Mal klarzumachen, desto essenzieller ist es, sehr höflich miteinander umzugehen. Je voller es ist, desto mehr muss man auf seine Mitmenschen achten, damit die Erfahrung für alle halbwegs erträglich wird. Besonders deutlich wurde mir das, als der Mitreisende vor mir seinen Sitz komplett nach hinten auf meine Knie klappte, die ältere Dame auf dem Sitz neben mir ihre Füße auf meine Oberschenkel streckte und ihr maskenloser Mann neun Stunden lang in die Kabinenluft hustete. Die Hölle stelle ich mir ein bisschen so vor wie diesen Flug.

Ein paar Wochen später befand ich mich auf einer anderen Reise, dieses Mal mit der Bahn. Der Zug war vollkommen überbucht, viele Reisende waren erschöpft und aggressiv, doch ich hatte Glück, denn ich hatte einen Platz reserviert – im Ruheabteil. Wir waren zu viele, die Bahn war deutlich zu spät, und sicher waren einige von uns genervt, dass wir Termine oder Anschlusszüge verpassen würden. Aber durch einen wundervollen kosmischen Zufall gaben sich in meinem Abteil alle die größte Mühe, die Mitreisenden durch nichts zu belästigen. Gespräche wurden leise geführt, für Telefonate wurde das Abteil gewechselt. Und als ein junges Mädchen mit ihrem Essen aus dem Bordbistro zurückkam, empfahl ihr Vater ihr flüsternd, den Salat mit Gemüsezwiebeln doch lieber im Bistro zu verzehren, um die Mitreisenden nicht durch den Geruch zu belästigen (falls Sie sich das beim Lesen fragen sollten: Nein, ich reiste nicht in einem Abteil voller Japaner*innen, auch wenn man das annehmen könnte). Ich kam mir vor wie im Himmel. Und stellte erneut fest, was für einen Unterschied diese vermeintlichen Kleinigkeiten machen.

In Japan gibt es den Begriff omotenashi. Er wird häufig mit Gastfreundlichkeit übersetzt, reicht aber viel weiter. Meinem Verständnis nach geht es um einen jederzeit umsichtigen, gedankenvollen Umgang mit den anderen.

Je mehr wir sind, desto wichtiger ist es, dass wir einander behandeln wie hochgeschätzte Gäste: aufmerksam und freundlich. Es muss nicht gleich formvollendetes omotenashi sein, aber Freundlichkeit ist der einzige Weg. Nur maximale Höflichkeit kann uns acht Milliarden noch retten.

Melanie Raabe bemüht sich nach Kräften, selbst mit gutem Höflichkeitsbeispiel voranzugehen. Zum Glück reist sie aber auch wieder etwas weniger in nächster Zeit.