Magazin

Buchempfehlung

Diese ukrainischen Autor*innen sollte man unbedingt lesen

Gemeinsam liest man weniger allein

Was wissen wir eigentlich über die Literatur der Ukraine? Viel zu wenig. Eine Orientierungshilfe.

– von Anastasia Denysenko

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine macht fassungslos, wütend, traurig. Man fragt sich: Was können wir tun angesichts von Panzern und Granaten und des Leids, das sie brachten? Was kann Literatur tun? Die Solidarität mit der Ukraine ist, auch in Deutschland, überwältigend. Auch wir möchten eine Brücke schlagen, vor allem zu den hiesigen Schriftsteller*innen, von denen viele in ihrer Heimat geblieben sind, um sie zu verteidigen. Denn wenn man ehrlich ist: Was wissen wir eigentlich über die Ukraine und ihre Kultur? Obwohl die ukrainische Grenze weniger als 700 Kilometer von der deutschen entfernt ist, war uns Lissabon lange Zeit näher als Lwiw, Mallorca näher als Mariupol. Wer könnte aus dem Stegreif auch nur eine ukrainische Autorin oder einen ukrainischen Autor nennen? Um das zu ändern, hat Anastasia Denysenko, verantwortlich für Literatur beim Ukrainischen Institut in Kyjiw, einige Leseempfehlungen für uns aufgeschrieben. Und natürlich wollen wir die Menschen vor Ort auch finanziell unterstützen. Das Honorar für den Text geht in Absprache an gemeinnützige Organisationen in der Ukraine. Zudem werden wir in unserer Instagram-Lyrikanthologie Flusslaut demnächst Gedichte ukrainischer Autor*innen präsentieren.

Juri Andruchowytsch – Perversion

Juri Andruchowytsch ist wohl der bedeutendste zeitgenössische Autor der Ukraine. Seine vielfach übersetzten Werke spiegeln die moderne Ukraine und ihre Identifikation mit Europa wider, behandeln jedoch auch die Außenwahrnehmung des Landes zu verschiedenen Zeiten – in den 90er Jahren, während der Orangene Revolution, zur Zeit des Euromaidan. Der Ukrainer im Kontext Europas – ihm galt schon immer Andruchowytschs Interesse. Seine bekanntesten und wichtigsten Romane sind Perversion (1996), Moscoviada (1993) und Karpatenkarneval (1992).

Das letzte Mal habe ich Perversion im Sommer 2020 gelesen, im Zug auf dem Weg nach Iwano-Frankiwsk, Juri Andruchowytschs Heimatstadt, und später während einer Wanderung in den Karpaten. Es war interessant, die neuen Eindrücke mit denen aus meiner Jugend zu vergleichen. Damals hatte mich vor allem die Hauptfigur der Geschichte angezogen – Andruchowytsch macht oft den Dichter zum Protagonisten seiner Werke, so auch in diesem Roman –, nun entdeckte ich, dass es in dem Stoff mehr um die menschliche Einsamkeit geht. Es ist wie bei vielen Werken in der Kunst: Mit der Zeit wird man reicher an (kulturellen) Erfahrungen und findet neue Bedeutungen, die darin eingebettet sind. Bei Andruchowytsch ist dies programmatisch, seine Werke sind voller Anspielungen und Metaphern. Perversion zum Beispiel verweist deutlich auf Thomas Manns Tod in Venedig.

Perversion ist ein faszinierender Roman, in dem realistisch geschilderte Figuren auf eine phantasmagorische Umgebung treffen. Der Roman handelt von dem mysteriösen Verschwinden von Stanislaw Perfecki, einem ukrainischen Schriftsteller des Underground, der nach Venedig gereist war, um ein Symposium über den „postkarnevalistischen Unsinn der Welt“ zu besuchen. Aufzeichnungen und Dokumente, die bei dem Dichter gefunden werden, schildern seine letzten Tage und zeugen von einer bewegten Reise.

Die Suche nach dem Autor, der wiederum selbst auf der Suche war nach einer eigenen Identität, kann auf einer Metaebene als Versuch gelesen werden, die moderne Ukraine in Europa zu verorten. In gewisser Weise spiegelt dies die Geisteshaltung vieler ukrainischer Intellektueller jener Zeit wider, die sich Europa zuwandten und auch einen entsprechenden Lebensstil pflegten.

Jurij Andruchowytsch
© Rafał Komorowski via Wiki Commons
Juri Andruchowytsch

Serhij Schadan

Serhiy Zhadan ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Lyriker und Erzähler der Ukraine, dessen Werke bereits zu Ikonen für die Generation nach der Unabhängigkeit geworden sind. Verse aus seinen Gedichten werden in Gesprächen zitiert, für viele Intellektuelle ist er ein Vorbild. Seine Werke wurden in etliche Sprachen übersetzt, insbesondere ins Deutsche. Kürzlich wurde er von der Polnischen Akademie der Wissenschaften für den Nobelpreis für Literatur nominiert. Seine Geburtsstadt ist Charkiw, in der er geblieben ist, um zu kämpfen und die Ukrainer*innen zu unterstützen.

Schadan ist in erster Linie ein Dichter, daher würde ich empfehlen, die Erkundung seiner Werke mit seiner Lyrik zu beginnen. Seine Gedichte sind aufrichtig, lebendig und mutig, der Geist des industriellen Ostens der Ukraine spiegelt sich darin wider, ebenso wie die Atmosphäre von Charkiw, eine besondere, wenn auch manchmal raue Stadt, die jedoch den tiefen historischen und kulturellen Hintergrund der ukrainischen Avantgarde-Literatur und der Architektur im konstruktivistischen Stil repräsentiert. Als Dichter ist Schadan stark mit der Stadt, ihren Bewohnern und Subkulturen verbunden. Insofern kann man ihn durchaus als Volkssänger bezeichnen.

In vielen Momenten des Krieges konnte ich mich an die Zeilen aus Schadans Gedichten erinnern, die er 2014 über den Konflikt im Donbass schrieb, und sie passen so sehr auf die heutige Zeit, dass es schwierig ist, nicht zu sehen, wie er uns durch die Reflexion darüber vereint, wie universell seine Texte sind.

Gleichzeitig ist er überhaupt nicht destruktiv. Ich lese ihn auch deshalb so gerne, weil er „aufgeladen“ ist und seine Poesie sich energisch anfühlt, mit vollem Bewusstsein für die Tragödie dieser Zeit.

Oksana Sabuschko – Schwestern

Oksana Sabuschko hat im März im Europäischen Parlament eine Rede gehalten, in der es vor allem um die Rolle und den Platz der Frauen in diesem Krieg ging. Die Belange der Frauen sind seit jeher ihr Thema, sie ist so etwas wie der personifizierte Feminismus in der ukrainischen Literatur und gibt ihnen eine Stimme.

Eines ihrer wichtigsten Werke ist Feldstudien über ukrainischen Sex (1996). Es ist eine Beziehungsgeschichte, in der die Themen Befreiung der Nation, der Frauen und der Individualität erforscht werden. Sabuschkos Literatur ist die Quintessenz philosophischen Denkens und zeigt eine meisterhafte Beherrschung der Sprache.

Von ihrer Geschichte Schwestern (2003) kann man nicht behaupten, dass sie besonders populär wäre – vielen ist ihr Stil zu ungestüm, zu wild, zu bissig, zu explizit sexuell. Aber als ich sie in der vergangenen Woche erneut las, spürte ich, wie aktuell sie heute ist, ein Echo auf die Schrecken, die vielen ukrainischen Frauen widerfahren.

Oksana Sabuschko im Europäischen Parlament
© Europäisches Parlament via Wiki Commons
Oksana Sabuschko im Europäischen Parlament.

Der Roman, der aus mehreren Erzählungen besteht, handelt von einer Frau, die gezwungen ist, ein noch nicht geborenes Kind zu opfern, damit ihr Mann und ihre Tochter überleben können. Die Geschichte spielt in der Sowjetzeit, der Antagonist ist ein KGB-Agent.

Beim Lesen erinnere ich mich an die Massaker in Butscha und in anderen Städten und an all die Frauen, die unter den Besatzern zu leiden hatten und. Diese Tragödie dauert bis heute an, und die Protagonistin der Geschichte, Daryna, könnte heute wahrscheinlich in Butscha leben oder in der ukrainischen Armee dienen.

Die Beständigkeit dieser Verbrechen ist bedrückend, aber Sabuschko meisterhafte Prosa schildert die Tragödie der Frauen so genau und anschaulich, dass man sich ihnen als Leser*in unmittelbar verbunden fühlt. Sie zeigt eine Weise der Existenz, eine hässliche Realität, in der es dem Menschen verboten ist, frei zu sein – all das, wogegen wir heute noch kämpfen.

Artem Tschech

Artem Tschechs Buch Punkt null (2017) verarbeitet die Erfahrungen, die der Autor als Soldat der Streitkräfte in den Jahren 2015-2016 (einschließlich zehn Monaten an der Front) im Donbas gemacht hat. Tschech wurde mit dem renommierten Joseph-Conrad-Preis ausgezeichnet und erhielt für sein jüngstes Buch Wer bist du? in der Ukraine den BBC Book of the Year-Preis. Bei dem Roman handelt es sich um eine fast autobiografische Geschichte, in der der Autor die 90er Jahre und seine Kindheit überdenkt.

Taras Prochasko

Taras Prochasko lebt und arbeitet in Iwano-Frankiwsk. In seinen Werken erzählt er die Geschichte der Bewohner der Karpaten als Teil der Geschichte ganz Mitteleuropas. Dort hänge bekanntlich alles mit allem zusammen. Er schreibt aber nicht nur alternative Geschichten, sondern verknüpft Orte zu Sequenzen und zeigt, dass so menschliche Schicksale entstehen. Es lohnt zum Beispiel ein Blick in die Sammlung Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen, deren Text magisch, philosophisch, von Melancholie und Humor durchdrungen sind.

Kateryna Kalytko

Kateryna Kalytko wurde in Winnyzja geboren, wo sie auch heute noch lebt. Sie ist Dichterin, Romanautorin und Übersetzerin. Sie hat neun Gedichtbände und einen Roman veröffentlicht, aber sie sagt, sie zähle sie eigentlich nicht nach deren Anzahl, sondern nach den Erfahrungen, die sie bedeuten, da sie bestimmte Phasen ihres Lebens markieren. Das einschlägige Zitat aus ihrem 2019 erschienenen Buch Niemand kennt uns hier („Here's your language, woman, shoot from it“) wurde von Leser*innen auf T-Shirts gedruckt und einige haben es sich sogar tätowieren lassen.

Wolodymyr Rafejenko

Wolodymyr Rafejenko wurde in Donezk geboren. Seit 2014 lebt er in Kyjiw. Er ist Romancier, Lyriker, Übersetzer, Literaturkritiker, Essayist, Filmkritiker und Dozent. Er hat mehrere Romane auf Russisch geschrieben und einige Literaturpreise erhalten, bevor er in die ukrainische Hauptstadt gezogen ist und seine Sprache als Autor gewechselt hat. Im Jahr 2019 ist sein erster Roman in ukrainischer Sprache Mondegrin. Lieder von Tod und Liebe (aktuell nur auf Englisch erhältlich) erschienen. Er schreibt über die Kultur und Selbstidentifikation der Menschen im Donbass während des Krieges.

Victoria Amelina

Victoria Amelina, geboren in Lwiw, ist eine preisgekrönte Schriftstellerin, die in der Ukraine und in den USA lebt. Ihr jüngster Roman Ein Haus für Dom (2017) erzählt die Geschichte einer Stadt mit einer dramatischen Geschichte, in der das Schweigen über vergangene Kriege und Massenmorde so unerträglich ist, dass nur ein verlassener Hund den Geheimnissen auf die Spur kommen und für die Menschen „sprechen“ kann.

Sofija Andruchowytsch

Sofija Andruchowytsch ist Autorin mehrerer Prosa-Bücher und Übersetzerin vieler bekannter englischsprachiger Bücher ins Ukrainische. Ihr 2020 erschienenes Buch Amadoka (bislang nicht übersetzt) wird von einigen Kritiker*innen als der wichtigste Roman der letzten 30 Jahre bezeichnet. Andruchowytsch schreibt darin über den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust, den stalinistischen Terror der 1930er Jahre und den Krieg, den Russland 2014 gegen die Ukraine geführt hat.

Anastasia Denysenko
© Zhenia Perutska
Anastasia Denysenko vom Ukrainischen Institut.

Die Autorin

Anastasia Denysenko ist Kulturmanagerin und arbeitet seit 2019 am Ukrainischen Institut, wo sie für den Bereich Literatur zuständig ist. Die staatliche Institution mit Hauptsitz in Kyjiw dient der Förderung der ukrainischen Sprache und Kultur im In- und Ausland. Zuvor war sie Redakteurin bei verschiedenen ukrainischen Verlagen (Laurus, Osnovy Publishing).