Textstellen

Waldversteck

Philipp Schiemann erinnert sich an seinen Zufluchtsort in Düsseldorf-Gerresheim.

Ich bin in Düsseldorf-Gerresheim aufgewachsen und habe meine ersten 14 Lebensjahre dort verbracht. Als Sohn eines Künstlerpaars wohnte ich in unmittelbarer Nähe des Dreherparks, der einen Schnittpunkt zwischen Bildungsbürger- und Arbeitergegend bildete. Für die Arbeiterkinder war ich ein seltsamer Vogel und wurde schon früh zum Opfer von verbalen Attacken, aber auch körperlichen Misshandlungen. So kam es, dass Gerresheim in meiner Wahrnehmung zu einem Ort wurde, in dem es sehr gefährliche Zonen gab, in denen die Gefahr, von anderen drangsaliert zu werden, enorm groß war. Allerdings entdeckte ich aus meiner Not heraus auch Plätze, die nie von meinen Peinigern frequentiert wurden. Das hatte insofern etwas Magisches, als es unsichtbare Grenzen oder Trennwände zu geben schien, die von meinen grausamen Feinden entweder respektiert wurden, oder, – und das halte ich für wahrscheinlicher –, die ihnen unbewusst suggerierten, dass jenseits ihrer Grenzen nichts liegen konnte, was für sie auch nur im entferntesten interessant sein würde. Von einem dieser sicheren Häfen soll hier die Rede sein.

Es handelt sich dabei um das Gebiet, das sich links und rechts des Dernbuschwegs ab Haus Nummer 89 befindet. Von dort an schlängelt sich die Straße in Serpentinen aufwärts durch ein Waldstück, um auf der Höhe als T-Kreuzung den Rotthäuser Weg zu treffen. Ungefähr auf der Hälfte dieses Streckenabschnitts verließ ich damals, etwa ab 1980, elf Jahre alt, die Straße, um auf der rechten Seite über ein kleines Feld zu laufen und danach ein schmales, ebenes Plateau im höher gelegenen, frisch gepflanzten Forst zu erklimmen. Von dort aus konnte man die Straße überblicken und gleichzeitig sichtgeschützt untertauchen. An diesem Platz erbaute ich eine kleine provisorische Hütte, die ich fortan das „Waldversteck“ nannte. Im Laufe meines Lebens habe ich, auch viel später noch, als Erwachsener, viele Nächte dort verbracht. Ich kam nachmittags an, spannte meine Zeltplane auf, sammelte Feuerholz, und als die Dämmerung nahte, verschwand ich zusammen mit den mich umgebenden Pflanzen in der Dunkelheit. In der Sicherheit.

Einmal war ich mit meiner kleinen Tochter für eine Nacht dort, weil sie Angst vor der bevorstehenden Klassenfahrt mit Übernachtung im Schullandheim hatte. Aus dieser Nacht mit ihrem alten Vater im „Waldversteck“ ging sie gestärkt hervor, ihre Ängste hatten sich in Luft aufgelöst.

Natürlich sind aus den kleinen Bäumchen der 1980er Jahre längst Bäume geworden, aber die Gegend hat sich ansonsten kaum verändert. Bei einem Unwetter im Jahr 2021 sind Teile der Serpentinenstraße weggesackt, der hintere Dernbuschweg ist für Autos seitdem gesperrt. Seit langem wird beratschlagt, ob man die Serpentinen für den Straßenverkehr überhaupt noch einmal sanieren soll, oder ob sie zum reinen Wanderweg werden. So oder so bleiben sie die Wegstrecke durch ein Refugium, das mir rettender Hafen als Kind und angehender Jugendlicher war. In Gerresheim ist diese Gegend, ebenso wie der Rotthäuser Weg auf der Höhe (wenn man sich nach rechts in Richtung Waldfriedhof wendet) für den Spaziergänger in jedem Fall einen Besuch wert. Und lassen Sie es sich gesagt sein: Es wird ihnen nichts passieren.

Vita

Philipp Schiemann, geboren 1969 in Düsseldorf, ist Schriftsteller und gelernter Mediengestalter. Als freier Autor veröffentlicht er seit 1995 Prosa- und Lyrikbände sowie Hörbücher. Ein weiterer Bereich seines Schaffens sind Sach- und Fachtexte über traditionelle Religion in Westafrika, die in fünf Sprachen übersetzt wurden. Er erhielt diverse Preise und Stipendien, unter anderem den Düsseldorfer Literaturförderpreis im Jahr 2002.